»Hm.« Beck guckt nachdenklich und rückt von dem Treppenabsatz unseres Hauseingangs näher an die Hauswand heran. Tatsächlich hat es angefangen zu schneien, und wie die meisten Katzen ist Beck wettertechnisch ein echtes Weichei. Wenn mein Opili – Gott hab ihn selig! – das sehen könnte, es würde ihn in seiner Meinung über diese Gattung vollauf bestätigen. Ich bleibe selbstverständlich wie angenagelt liegen und trotze dem Schneesturm. Na ja, drei Flocken mindestens haben schon meine Nase gestreift. Ich muss niesen. Herrn Beck scheint das an unser Ausgangsthema zu erinnern.
»Ja, ja, die Nase. Damit hat sie dich also ertappt. Für einen Menschen ist das wirklich eine unglaubliche Leistung. Selbst mir fällt es mittlerweile schon deutlich schwerer, Duftmarken exakt zuzuordnen. Das Alter!« Er seufzt. »Ist dir denn sonst noch etwas aufgefallen? Vielleicht sind das ja Anzeichen irgendeiner seltenen Krankheit?«
Ich denke kurz nach.
»Nein. Oder, na ja. Ich finde, Carolin ist in letzter Zeit immer sehr müde. Normalerweise dreht sie bei schönem Wetter gerne eine Extrarunde mit mir im Park. Das ist schon länger nicht mehr vorgekommen, sie ist immer zu schlapp dafür. Meinst du, ich muss mir Sorgen um Carolin machen?«
Becks Schwanzspitze zuckt. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass er nachdenkt.
»Tja, so spontan weiß ich damit auch nichts anzufangen. Geruchsempfindlichkeit und Müdigkeit – habe ich so als Krankheitssymptome beim Menschen noch nicht erlebt. Beim Kater erst recht nicht. Vielleicht sind das auch alles nur Zufälle? Ihre Nase hatte heute nur einen guten Tag, und außerdem ist es ihr momentan schlicht zu kalt, um mit dir spazieren zu gehen? Ich fürchte, wir müssen das weiter beobachten, mein Freund. Nur so kommen wir zu einer fundierten Diagnose.«
Ich nicke, dann wälze ich mich hoch und trotte Richtung Terrassentür zur Werkstatt. Beobachten ist bestimmt eine gute Idee, und wenn ich schon dabei bin, kann ich auch gleich mal beobachten, ob sich schon etwas Essbares in meinem Napf befindet.
Carolin läuft in dem großen Raum mit den Werkbänken hin und her und telefoniert. Aus der kleinen Küche hinter dem Flur, in der sich Caro und ihr bester Freund und Kollege Daniel immer Tee oder Kaffee kochen, höre ich es verdächtig klappern. Vielleicht denkt wirklich jemand an mich? Muss ja nicht unbedingt frisches Rinderherz sein, eine Zwischenmahlzeit in Form von Hundekuchen würde mir auch gefallen.
Hoffnungsfroh renne ich hinüber und schaue durch die Tür: Tatsächlich hantiert Daniel mit einem Karton. Ich schnuppere kurz in die Luft – nein, bedauernswerterweise sind keine Hundekuchen darin, sondern wohl nur die kleinen Papiertüten, in die er immer das Kaffeepulver füllt. Vielleicht kann ich ihm trotzdem einen Snack aus den Rippen leiern. Direkt neben der Tür stehen mein Trink- und mein Fressnapf. Letzterer ist – leider! – leer. Ich gebe ihm einen kräftigen Stoß mit meiner Schnauze und werfe ihn damit gegen den Trinknapf, so dass es ziemlich laut scheppert. Daniel dreht sich erschrocken zu mir um. Recht so! Ein schlauer Kerl und Hundefreund wie er sollte doch mit dieser Botschaft etwas anfangen können.
»He, du Randale-Dackel! Oder sollte ich besser Hooligan-Hund sagen? Was soll das denn?«
Also bitte, Daniel, das ist jetzt nicht der passende Moment für sprachliche Spitzfindigkeiten, die mir persönlich auch rein gar nichts sagen. Ich will etwas zu fressen, und zwar schnell! Um die Botschaft noch etwas klarer zu machen, gebe ich dem umgekippten Fressnapf noch einen Stups und knurre ein bisschen.
»Ach, daher weht der Wind. Monsieur verlangt nach einer Mahlzeit!«
Sehr gut, hundert Punkte, Daniel. Und nun mach schon, du weißt bestimmt, wo Carolin meine Leckerlis aufbewahrt – in dem kleinen Schränkchen, auf dem die Kaffeemaschine steht. Das ist doch für dich nur ein Griff!
Aber leider öffnet Daniel nicht einfach die Schranktür, sondern sieht sich etwas hilfesuchend in der kleinen Küche um und fährt sich dann ratlos mit den Händen durch die vielen hellen Locken auf seinem Kopf.
»Hm, wo mag denn dein Frauchen etwas für dich verstaut haben?« Er öffnet den Schrank über dem Herd mit den zwei Platten. »Also, das hier sieht schon mal schlecht aus. Vielleicht daneben? Nee, auch nicht.« Er beugt sich zu mir herunter. »Tja, Herkules, da siehst du es – ich war wirklich verdammt lange weg. Ich muss mich hier erst einmal wieder einleben.«
Mit diesen Worten verlässt er die Küche und geht in den großen Werkraum.
»Sag mal, Carolin«, höre ich ihn fragen, »hast du hier unten irgendetwas zu fressen für Herkules? Er scheint Hunger zu haben.«
»Kann zwar eigentlich nicht sein, aber vielleicht hat ihn die allgemeine Vorweihnachtsvöllerei angesteckt. Moment, ich zeig’s dir.« Sie kommen beide in die Küche.
»Danke!«
»Keine Ursache, ist ja auch in meinem Interesse, wenn du dich so schnell wie möglich wieder heimisch fühlst.«
Recht hat sie. Ich will doch schwer hoffen, dass Daniel diesmal für immer dableibt. Carolin und Daniel haben sich nämlich schon einmal die Werkstatt geteilt und zusammen Geigen gebaut. Das war zu der Zeit, als mich Caro aus dem Tierheim gerettet hat. Aber dann war Daniel als Mann zu nett für Carolin, aber nicht für Aurora, und deswegen verliebte sich Carolin in Marc, und Daniel zog mit der doofen Aurora weit, weit weg und kam nur noch ganz selten bei uns vorbei. Also, das ist jetzt die sehr verkürzte Fassung, aber so ungefähr war’s. Es ist auch müßig, sich bei Menschen alles merken zu wollen. Ich habe es jedenfalls mittlerweile aufgegeben. Dafür passiert bei denen einfach viel zu viel.
Das soll mich jetzt auch nicht weiter kratzen, denn immerhin ist Daniel nun wieder da und scheint auch bleiben zu wollen. Umso sinnvoller ist es deswegen natürlich, dass Carolin ihn gründlich in die wesentlichen Dinge der Werkstatt einweist. Wozu selbstverständlich auch gehört, wo sich mein Futter befindet.
Nach einer solchen Einarbeitung sieht es allerdings momentan nicht aus. Stattdessen stehen die beiden in der Küche voreinander und schweigen sich an. Dann lächelt Daniel und knufft Caro in die Seite.
»Carolin, ich bin froh, dass wir jetzt wieder ein richtiges Team sind.« Sie nickt.
»Ja, ich auch. Ich hoffe nur, du wirst München nicht zu sehr vermissen. Und alles, was damit zusammenhängt.«
Daniel brummt irgendetwas Unverständliches, und diesmal ist es Carolin, die ihn knufft.
He! Das ist ja geradezu rührend, wie ihr hier den Geist eurer Freundschaft beschwört, aber: WO BLEIBT MEIN FUTTER? Ich winsle ein bisschen, um den Ernst der Lage zu verdeutlichen.
»Ist ja gut, Süßer, geht schon los!« Carolin beugt sich zu dem Schränkchen, öffnet eine der Türen und nimmt eine Dose heraus. Na endlich!, möchte ich laut rufen, beschränke mich aber meinen Fähigkeiten entsprechend auf ein gutgelauntes Schwanzwedeln.
Als Carolin die Dose öffnet, passieren mehrere Dinge, und zwar fast zeitgleich: Erst strömt der verführerische Duft von Pansen und Leber in die Küche – und nur den Bruchteil einer Sekunde später lässt Carolin die Dose auf den Boden fallen, gibt ein tiefes, würgendes Geräusch von sich, dreht sich blitzschnell zur Seite und übergibt sich in die Spüle neben der Kaffeemaschine.
ZWEI
Heilige Fleischwurst! Das letzte Mal, dass ich erleben musste, wie sich Carolin übergab, war mit Sicherheit der absolute Tiefpunkt meiner Karriere als Haustier. Carolin hatte aus Liebeskummer eine ganze Flasche Cognac niedergemacht, dann ihren Wohnzimmerteppich in kleine Teile geschnitten und war schließlich ohnmächtig geworden. Also, nachdem sie gespuckt hatte. Und wer war schuld daran? Genau. Ich, Herkules, der Unglücksrabe, mit freundlicher Unterstützung von Herrn Beck. Kurz zuvor hatten wir zwei nämlich Carolins gruseligen Freund Thomas aus dem Haus geekelt. Die beiden passten einfach nicht zusammen. Trotzdem war Caro danach so unglücklich, dass sie auf die Sache mit dem Cognac verfiel.