»Sag mal, wo feierst du eigentlich Weihnachten?«, will Carolin von Daniel wissen.
»Ich weiß noch nicht so genau. Aurora hat mich gefragt, ob ich nicht doch mit ihr nach New York kommen will. Aber das halte ich für keine so gute Idee. Ich glaube, ein bisschen Abstand tut uns beiden nach dem ganzen Desaster erst einmal gut. Außerdem hat sie bei Konzertreisen erfahrungsgemäß sowieso wenig Zeit, und ich säße nur allein im Hotel.«
»Hm.« Mehr sagt Caro dazu nicht, was schade ist, denn die Kombination aus Aurora und Desaster klingt selbst in meinen Dackelohren interessant. Gut, natürlich ist Daniel gekommen, um Carolin beizustehen, so viel steht fest. Aber offenbar gibt es Zoff mit Aurora, der Stargeigerin. Das ist natürlich großartig, denn es erhöht nach meiner Kenntnis von menschlichen Beziehungen die Wahrscheinlichkeit, dass Daniel wirklich für immer hierbleibt, erheblich.
»Ach, ich glaube, ich besuche einfach meine Eltern in Lübeck. Die würden sich freuen, mich zu sehen.«
»Du kannst natürlich auch mit uns feiern. Marc und Luisa hätten bestimmt nichts dagegen.«
»Danke, das ist ein liebes Angebot. Aber du hast es ja schon selbst gesagt – dieses Weihnachten ist in gewisser Weise besonders für euch. Da möchte ich nicht stören.«
»Du störst überhaupt nicht.«
»Nee, danke, lass mal. Ich fahre nach Lübeck und lasse mich von meiner Mutter mästen.«
Carolin rappelt sich aus ihrem Sessel hoch.
»Tja, vielleicht hast du Recht. Ich bin auch schon sehr gespannt, wie Luisa reagieren wird.« Na, wie wohl? Entsetzt! »Ich meine, ich bin nicht ihre Mutter, aber trotzdem …« Also, da fallen mir doch so langsam die Schwanzhaare aus – für wie herzlos hält sie das Kind?
»Ja, ihr müsst sie gut darauf vorbereiten«, pflichtet ihr Daniel bei, »für die Kleine wird sich eine Menge ändern, und die Familie, die ihr jetzt seid, wird es so nicht mehr geben.«
Vielen Dank, Daniel. Jetzt hast du es geschafft. Mein Appetit ist mir endgültig vergangen. Ich lasse den Napf stehen und beschließe, die traurigen Nachrichten mit jemandem zu teilen, der zur Abwechslung mal mich trösten kann.
»Und du bist dir da ganz sicher?« Herr Beck ist fassungslos.
»Ja, leider. Im wahrsten Sinne des Wortes: todsicher.«
»Aber, aber – das ist ja schrecklich! So eine junge Frau! Was ist denn das bloß für eine fürchterliche Krankheit?«
»Das hat sie nicht so genau gesagt. Aber sie hat nicht mehr viel Zeit. Weihnachten wollen sie es Luisa sagen.«
»O nein. Das arme Kind.«
»Ach, Beck, ich bin so unglücklich.« Ich beginne zu jaulen. Beck macht ein Geräusch, das dem menschlichen hm, hm sehr nahekommt.
»Aber vielleicht ist es auch blinder Alarm, und du hast die beiden einfach falsch verstanden. Vielleicht wollen sie Luisa an Weihnachten etwas ganz anderes sagen. Weißt du, Menschen sind Meister der Doppeldeutigkeit, das ist als Haustier nicht immer leicht zu verstehen.«
Typisch Beck. Nie nimmt er mich ernst. Ein toller Freund. Ich jaule noch ein bisschen lauter.
Beck seufzt.
»Okay. Nehmen wir mal an, du hättest Recht. Dann musst du dich ein bisschen ablenken. Sonst wirst du noch schwermütig. Und mit einem schwermütigen Dackel ist auch niemandem gedient. Am wenigsten Carolin.«
»Ich bin bereits schwermütig. Mein Frauchen wird sterben, wie könnte ich da gut gelaunt sein?«
Beck seufzt.
»Noch maclass="underline" Vielleicht hast du sie einfach falsch verstanden. Leider können wir sie das nicht einfach fragen. Bis wir Gewissheit haben, bist du gut beraten, nicht die ganze Zeit über den Tod nachzudenken. Zu viel denken ist für Haustiere insgesamt nicht gut. Für Menschen eigentlich auch nicht, aber die sind für sich selbst verantwortlich. Also, lass uns über etwas anderes reden.«
Dieser fette Kater ist so verdammt herzlos! Worüber soll ich denn jetzt mit ihm reden?
»Mir fällt nichts ein, worüber ich mich im Moment mit dir unterhalten möchte.«
»Wie wäre es denn zum Beispiel mit dem Thema Weihnachten?«
»O nein! An Weihnachten wollen sie es doch Luisa sagen. Und dann wird das arme Kind erfahren, dass …«
»Herkules!«, unterbricht mich Beck rüde. »Keine Gespräche über den Tod!«
Na gut, dann eben nicht. Wir schweigen uns an.
»Wann ist eigentlich Weihnachten?«, will ich schließlich von Beck wissen.
»Na, so wie jedes Jahr.«
»Das ist mir klar, ich habe es nun schließlich auch schon zweimal mitgemacht – aber trotzdem habe ich es mit der menschlichen Zeiteinteilung nicht so. Also – ist Weihnachten eher morgen, oder dauert es noch ein bisschen?«
Beck bewegt den Kopf bedächtig hin und her. Offenbar weiß er es auch nicht so genau.
»Lass mal überlegen. Auf Ninas Wohnzimmertisch steht so ein rundes Teil mit Kerzen drauf. Vier Stück. Und soweit ich weiß, müssen alle brennen, damit Weihnachten ist.«
»Aha. Aber die brennen doch, weil die Menschen sie anzünden. Dann könnte ja jeder selbst bestimmen, wann das ist. Einfach alle Kerzen angezündet, fertig.«
Herr Beck zieht seine buschigen Augenbrauen hoch und schaut mich tadelnd an.
»Nein, so geht das natürlich nicht. Diese Kerzen kann man nicht einfach so anzünden.«
»Kann man nicht? Brennen die dann nicht?«
»Quatsch, das meine ich nicht. Ich meine, sie werden nach einem bestimmten … na … wie nenne ich es? Genau – sie werden nach einem bestimmten Ritus angezündet. Erst eine, dann zwei … und so weiter. Bis sie schließlich alle brennen. Dazwischen müssen aber immer ein paar Tage liegen.«
»Welchen Sinn soll das denn haben?«
»Herkules, manchmal stellst du Fragen wie ein Maikätzchen. Als ob bei den Menschen immer alles einen Sinn hätte.«
Nee, nee, mein Lieber – so einfach kommst du mir nicht davon. Wer den Spezialisten gibt, muss auch mit kritischen Nachfragen rechnen.
»Ich sage ja gar nicht, dass bei den Menschen immer alles einen Sinn haben muss. Aber wenn sie es so kompliziert machen, haben sie sich doch in der Regel schon etwas dabei gedacht«, halte ich dagegen. Herr Beck macht ein Geräusch, das wie PFFF klingt und wahrscheinlich Missbilligung ausdrücken soll, aber an den Bewegungen seiner Schwanzspitze kann ich erkennen, dass er tatsächlich über meinen Einwurf nachdenkt.
»Okay, wenn ich mich richtig erinnere, hat das irgendetwas mit Abwarten zu tun.«
»Abwarten?«
»Ja. Die Menschen warten auf irgendetwas oder irgendjemanden. Und damit die Zeit schneller vergeht, zünden sie nach jeder Woche, die sie erfolgreich hinter sich gebracht haben, eine neue Kerze an.«
»Aber auf wen oder was warten sie denn? Das muss ja etwas ganz Besonderes sein, wenn dafür so ein Brimborium veranstaltet wird. Ich meine – Carolin wartet auch häufiger mal auf einen Kunden, der sich verspätet. Oder auf Marc, dem ein Notfall dazwischengeplatzt ist. Meines Wissens hat sie deswegen aber noch nie eine Kerze angezündet.«
Jetzt guckt Herr Beck wirklich sehr nachdenklich.
»Du hast Recht. So habe ich es noch nie betrachtet. Ich schätze mal, sie warten auf den Weihnachtsmann.«
»Den Weihnachtsmann? Aber den gibt es doch momentan an jeder Ecke. Auf den muss man nicht warten, man kann ihm zurzeit eigentlich kaum entgehen. Erst heute Morgen hat mir Luisa einen kleinen Schokoweihnachtsmann zugesteckt. Sehr lecker! Und ein großer, dicker Weihnachtsmann sitzt jetzt auch vor dem riesigen Haus, in dem man von der Fleischwurst bis zur Unterhose alles besorgen kann. Vor ein paar Tagen war ich mit Carolin dort, es war unglaublich voll, und gleich am Eingang war dieser Weihnachtsmann und brüllte ho ho ho und bimmelte ununterbrochen mit einer sehr lauten Klingel. Also, für den würde ich garantiert keine Kerze anzünden. Ich wäre eher froh, wenn der nicht kommt.«