ZWEIUNDZWANZIG
Willi starrt das Radio an, dann dreht er es wieder aus und holt tief Luft.
»Oha! Wollen wir mal hoffen, dass Daggi und Karl-Heinz heute Abend kein Radio mehr gehört haben.«
Ich bin völlig verwirrt. »Was war das denn?«, will ich von Herrn Beck wissen. »Woher kommt diese Stimme? Und woher weiß die, dass Luisa verschwunden ist?«
»Die haben im Radio eine Vermisstenmeldung vorgelesen, die die Polizei ans Radio geschickt hat.«
»Sicher?«
»Todsicher. Habe ich im Tatort schon ein paarmal gesehen. So suchen die immer nach verschwundenen Kindern.«
Ach du Schreck! Tatort? Polizei? Heißt das, nach uns wird gesucht? Ich habe von der Polizei nur eine ganz vage Vorstellung, aber ich glaube, die fangen Menschen und sperren sie ein. Den gleichen Gedanken scheint auch Willi zu haben. Er geht murmelnd auf und ab und schüttelt dabei den Kopf.
»Oh, oh, wenn wir da man nicht mächtig Ärger kriegen! Aber es hilft nichts: Ich habe es Luisa versprochen, nun muss ich es auch halten. Allerdings sollte ich morgen ihren Vater anrufen, der macht sich bestimmt schon riesige Sorgen.« Er setzt sich wieder auf das Sofa. »Genau. Das mache ich. Morgen rufe ich den Herrn Doktor an. So, Kumpels, und jetzt wollen wir mal versuchen, noch eine Mütze Schlaf abzubekommen. Gute Nacht!«
Aber ich kann nicht einschlafen. Auch nicht, nachdem Willi das Licht gelöscht hat. Die ganze Zeit muss ich an die Polizei denken und ob die uns hier finden würde. Was dann wohl passiert? Ich habe zwar mit diesen Dingen noch keinerlei Erfahrung gesammelt, aber mein Instinkt sagt mir, dass unsere Flucht dann ein sehr abruptes Ende finden würde. Womöglich würde die Polizei auch sehr mit Willi schimpfen, Stichwort mächtig Ärger. Unruhig wälze ich mich auf meinem Kissen hin und her und lausche in die Dunkelheit. Höre ich da irgendetwas? Vielleicht die Polizei, die kommt, um uns zu holen? Nein, das Geräusch, das ich laut und deutlich neben mir vernehme, ist eindeutig nur das Röcheln von Herrn Beck. Ich robbe in seine Richtung.
»Sag mal Beck, kannst du auch nicht schlafen?«
»Nein, nicht richtig. Ich bin ja nachts sowieso kein guter Schläfer, und gerade bin ich total wach.«
»Ich mach mir irgendwie Sorgen.«
»Geht mir genauso. Ich habe Angst, dass uns die Bullen gleich morgen schnappen.«
»Welche Bullen? Ich denke, hier gibt’s nur Schweine.«
Herr Beck kichert. Was, bitte, ist daran lustig? Ich habe hier bisher nur Schweine gesehen, und angeblich gibt es auch noch ein Pony. Von Rindern, beziehungsweise Bullen, war noch nie die Rede, und ich verstehe auch nicht, was das an unserer Lage ändern würde.
»Herkules, ich meine doch menschliche Bullen.«
»Menschliche Bullen?«
Wieder ein Kichern.
»Bulle ist ein anderes Wort für Polizist. Und kein besonders freundliches.«
Aha. Mal wieder typisch Mensch. Wenn es darum geht, die Mitmenschen zu beschimpfen, kommen aus irgendeinem Grund gerne mal Tiernamen ins Spiel. Obwohl das in den allermeisten Fällen wirklich unsinnig ist. Kein Tier, das ich kenne, ist auch nur ansatzweise so dumm oder faul, wie es die Menschen angeblich sind, die mit ihm beschrieben werden sollen. Zum Bespiel die dumme Gans – die gibt es gar nicht. Gänse sind ziemlich schlau. Opili hat mir erzählt, dass eine Gans genauso wachsam wie ein Hofhund ist. Sie nimmt auch Witterung auf, und wenn sie einen Fremden riecht, gibt sie sofort Laut. Okay, das heißt bei Gänsen irgendwie anders – vom Prinzip ist es das Gleiche. Also nix da mit dumm.
»Herkules?«
»Ja?«
»Du sagst ja gar nichts mehr, bist du jetzt doch schon eingeschlafen?«
»Nein, ich denke darüber nach, warum die Menschen andere Menschen Bullen nennen.«
»Na, du hast ja vielleicht einen Sinn für das Wesentliche. Mach dir lieber Gedanken darüber, was passiert, wenn die Bullen hier tatsächlich auftauchen sollten!«
»Hm. Meinst du?«
»Klar sollten wir darüber nachdenken. Wir brauchen ganz dringend eine Exit-Strategie. Ich habe jedenfalls keine Lust, in den Bau beziehungsweise ins Tierheim zu wandern.«
»Was brauchen wir?« Kann sich denn dieser blöde Kater nicht mal so ausdrücken, dass man ihn auch versteht?
»Eine Exit-Strategie. Einen Plan, wie wir hier heil rauskommen, auch wenn die Bullen den Hof schon umstellt haben.«
»Also, jetzt machst du mir langsam richtig Angst!«
»Nein, Angst bringt uns nicht weiter. Wachsamkeit allerdings schon. Und es wird dich beruhigen zu erfahren, dass ich bereits einen solchen Plan entwickelt habe.«
Ich gebe es ungern zu, aber der Gedanke beruhigt mich tatsächlich etwas.
»Und wie sieht der aus?«
»Ganz einfach: Sobald der Morgen graut, werden wir eine Wachpatrouille einrichten. Du observierst den vorderen Hofteil, ich den hinteren. Am Ende jeder Runde treffen wir uns und berichten. Wer etwas sehr Ungewöhnliches bemerkt, schlägt natürlich gleich Alarm. Im Ernstfall bringen wir dann Willi und Luisa dazu, sofort mit uns abzuhauen.«
»Und wie machen wir das?«
»So wie immer: ganz viel Radau veranstalten, bis sie den Ernst der Lage erkennen.«
Ich seufze. So wahnsinnig ausgefeilt erscheint mir der Plan nicht, aber immerhin ist er besser als gar keiner. Eine Frage habe ich allerdings doch noch.
»Sag mal, sieht die Polizei immer gleich aus? Ich habe die bisher nur einmal gesehen, als Caro ihr Baby auf dem Friedhof bekommen hat. Aber das war ja in Hamburg, und wer weiß, ob die Polizei hier im gleichen Aufzug erscheint.«
»Also, wenn ich meine Beobachtungen aus dem Tatort richtig deute, sieht die Polizei überall gleich aus. Die kommen in weißen Autos, die von vorne bis hinten einen dicken, dunklen Balken haben, also praktisch gestreift sind. Auf dem Dach ist so ein Licht wie auf einem Krankenwagen. Und die Polizisten selbst haben dunkle Uniformen an und flache Mützen auf. Wobei die Farben da tatsächlich variieren können, aber mit Farben hab ich es ja nicht so.«
»Aha. Okay, dann weiß ich, was du meinst. Genauso sahen die auf dem Friedhof auch aus.« Ich unterdrücke ein Gähnen. »Ich versuche es noch mal mit dem Schlafen, damit ich morgen früh fit bin. Gute Nacht!«
»Gute Nacht! Ich wecke dich dann!«
Als wir am nächsten Morgen sehr, sehr früh auf den Hof stolpern, ist dort schon mächtig was los. Zuhause bei Marc und Caro bin ich eigentlich immer der Erste, der wach ist. Aber bei Karl-Heinz und Daggi scheint es sich um echte Frühaufsteher zu handeln. Beide wuseln zwischen den verschiedenen Gebäuden hin und her, beide wirken sehr gut gelaunt. Interessant. Ich dachte immer, morgens seien Menschen automatisch übellaunig.
»Hoppla, der Stubentiger und der Dackel – guten Morgen, ihr beiden!«, begrüßt uns Daggi fröhlich. Ob sie merkt, dass wir nicht einfach harmlos herumstromern, sondern den Hof observieren wollen? Wahrscheinlich nicht. Welcher Zweibeiner traut uns das schon zu? Ich pilgere möglichst unauffällig zu meinem Wachposten. Der liegt neben der Wiese vom Schweinestall, von dort aus kann ich fast den gesamten vorderen Hofteil überblicken. Da reicht es bestimmt, wenn ich nur ab und zu eine Runde drehe. Operation Adlerauge kann beginnen.
»Hey, da bist du ja wieder. Und ich weiß immer noch nicht, wie du heißt. Verrätst du es mir heute?«
Jaul. Das freche Schwein Virginia. Das hat mir gerade noch gefehlt. Kinder, so kann ich nicht arbeiten!
»Hallo? Redest du nicht mehr mit mir, oder bist du taub? Ich dachte immer, ihr Hunde habt so tolle Ohren. Das ist dann ja wohl nur ein Gerücht.«
Ich drehe mich um und versuche, Virginia hochmütig zu mustern.
»Oh, hast du Kopfschmerzen?«
»Wieso?«
»Na, du guckst so komisch.«
Wuff! Grrr!
»Tschuldigung, das war doch nicht böse gemeint. Was hast du bloß gegen mich? Ich wollte nur nett sein.«
Soll ich das jetzt glauben? Ach, ist auch egal, die letzten beiden Tage waren schon verrückt genug, warum soll ich also nicht mal nett mit einem Schwein plaudern. Ich räuspere mich.