»Ich heiße Carl-Leopold von Eschersbach, aber meine Freunde nennen mich Herkules.«
Ich glaube, Virginia grinst. So genau kann man das bei einem Schwein natürlich nicht sagen, dazu ist der Rüssel zu groß und zu lang. Der versperrt eindeutig die Sicht auf die Mimik.
»Gut. Dann nenne ich dich Herkules.«
So weit ist es also schon gekommen. Ich bin mit einem Schwein befreundet.
»Aber sag mal, wenn du doch gar nicht der neue Hofhund bist, was ich jetzt einfach mal annehme – warum sitzt du dann hier und beobachtest alles so genau?«
Ups. Ertappt.
»Äh, das ist eine etwas komplizierte Geschichte.« Ob Virginia vertrauenswürdig ist? Andererseits – wem sollte sie von unserer Flucht erzählen? Ich glaube nicht, dass die Kommunikation zwischen Mensch und Schwein derart ausgereift ist. »Also, Virginia, was ich dir jetzt anvertraue, ist streng geheim. Du darfst es niemandem weitererzählen.«
»Ui!« Virignia guckt erstaunt, und ich glaube, sie versucht, ihre Ohren zu spitzen.
»Wir sind auf der Flucht. Willi, Luisa und ich. Na ja, und Herr Beck natürlich auch.«
»Echt? Wovor? Vor dem Schlachter? Aber Hunde und Katzen will doch wohl niemand essen, oder?«
Ich schüttle den Kopf.
»Nein, natürlich nicht. Wir sind auf der Flucht vor der Polizei. Die sucht uns.«
»Was ist denn die Polizei?«
»Das sind Menschen, die andere Menschen einfangen.«
»Und wieso machen die das?«
»So genau kann ich dir das auch nicht erklären, aber es ist so: Luisa will zu ihrer Mama nach München. Das ist ganz weit weg. Und die Polizei, die will das nicht. Deswegen müssen wir Luisa helfen, verstehst du? Weil ein Kind nun mal zu seiner Mama gehört. Das ist doch normal.«
»Aha, verstehe! Dann ist die Polizei wie der Mäster, der auf den anderen Höfen immer die Ferkel abholt. Also, nicht bei uns – wir sind ja öko. Aber meine Mama, die Jolante, hat mir erzählt, dass bei den bösen Bauern die Ferkel nur ganz kurz bei der Mama bleiben dürfen. Und dann holt sie jemand ab, obwohl sie noch so klein sind und dann die ganze Zeit weinen. Das ist der Mäster. Und das ist ganz schlimm.«
Mäster? Öko? Ich verstehe kein Wort.
»Sag mal, was ist denn dieses Öko, von dem du immer sprichst?«
»Das bedeutet natürlich. Oder wie der Bauer immer sagt: Man kann ein Schnitzel auch im Einklang mit der Natur herstellen.«
Klingt logisch. Mir als Jagdhund leuchtet das sofort ein. Bevor man das Kaninchen zur Strecke bringt, darf es sich ruhig wohl fühlen.
»Und deswegen ist der Mäster der Böse – weil das eben nicht natürlich ist. Verstehst du?«
Einigermaßen – und da kommt mir eine geniale Idee. Vielleicht kann Virginia uns helfen.
»Klar, habe ich verstanden. Und in unserem Fall ist die Polizei quasi der Mäster. Genau deswegen brauchen wir deine Unterstützung.«
»Was soll ich tun?«
»Du bist doch den ganzen Tag hier draußen. Kannst du bitte die Augen aufhalten, ob dir irgendetwas Ungewöhnliches auffällt? Ich meine, Herr Beck und ich versuchen, den ganzen Hof im Blick zu behalten, aber der ist ganz schön groß. Besser wäre es, wir hätten noch jemanden, der uns hilft.«
»Geht klar! Und Herr Beck ist der fette Kater, oder wie?«
»Genau.«
»Und was soll ich machen, wenn mir etwas auffällt?«
Gute Frage.
»Vielleicht kannst du irgendetwas Lautes veranstalten? Mit deinen Kollegen zusammen? Irgendetwas, was wir auch mitkriegen, wenn wir am anderen Ende des Hofes sind?«
»Hm.« Virginia legt die Stirn in Falten. »Darüber muss ich mal nachdenken. Aber mir fällt bestimmt was ein.«
Okay. Vielleicht sind Schweine doch nicht ganz blöd.
»Willi, ich hab über euer Problem nachgedacht, und ich glaube, ich habe die Lösung.« Karl-Heinz sieht sehr zufrieden mit sich und der Welt aus. Nachdem mittlerweile auch Luisa und Willi wach sind, sitzen wir wieder alle in der großen Bauernhausküche. Die Menschen frühstücken – und wir Tiere auch. Diesmal gibt’s Pansen für mich und einen Rest Hühnerfrikassee für Herrn Beck. Lecker!
»Also«, fährt Karl-Heinz fort, »der Norbert, mein Schwager, der ist ein echter Idiot. Aber außerdem ist er auch LKW-Fahrer. Arbeitet bei der örtlichen Viehvermarktung und macht immer die großen Touren von der Sammelstelle in Nordergellersen bis nach Italien. Tja, ich glaube, da kommt er direkt an München vorbei. Viehtransporter fährt er, der Verbrecher, also da könnte ich euch Geschichten erzählen, das ist nämlich so eine Sauerei, wie die da …«
Karl-Heinz wird richtig laut, Daggi legt ihren Arm auf seinen und drückt ihn kurz.
»Kalli, du sollst dich doch nicht so aufregen! Guck mal, Norbert macht sein Ding, und wir machen unseres.«
»Nee, nee, Daggi – das ist ein Verbrechen, wie die mit den Tieren umgehen! Das geht doch nicht!«
»Ja, du hast ja Recht. Aber das bringt uns momentan nicht weiter. Nun erzähl doch mal deinen Plan.«
Karl-Heinz holt tief Luft.
»Na gut. Also, ich werde jetzt Norbert, den Idioten, anrufen und ihm sagen, dass er einiges für den Familienfrieden tun kann, wenn er Willi und Luisa auf seiner nächsten Tour mitnimmt. Nachdem er mich auf Omas letztem Geburtstag als Öko-Heini beschimpft hat, hab ich noch einen gut bei ihm.«
»Und wann ist die nächste Tour?«, erkundigt sich Willi.
Karl-Heinz zuckt mit den Schultern.
»Weiß nicht genau. Kann sogar sein, dass die heute Mittag schon losgeht. Oder dass einer seiner Kollegen heute so eine Fahrt hat, die Viehvermarktung ist ein ziemlich großer Laden. Ich würde euch dann nach Nordergellersen fahren. Muss da sowieso noch was erledigen.«
»Und was machen wir mit meinem Auto?«
Stimmt, das gibt’s ja auch noch! Ich hoffe allerdings, dass ich nicht so bald wieder darin Platz nehmen muss.
»Keine Sorge. Ich habe schon mit Netto-Dieter gesprochen. Er sieht sich mal auf dem Schrottplatz um. Bis du wieder aus München zurück bist, läuft die Karre wieder.«
»Soll ich dir Geld dalassen? Viel habe ich nicht, aber besser als nichts.«
Karl-Heinz schüttelt den Kopf.
»Lass stecken. Netto schuldet mir noch einen Gefallen. Ich ruf jetzt mal den Norbert an. Daggi, haben wir die Handynummer?«
Daggi nickt.
»Ja, im Adressbüchlein steht sie drin, guck mal auf dem Schreibtisch.«
Karl-Heinz steht auf und verschwindet Richtung Telefon, Daggi schenkt Willi noch eine Tasse Kaffee ein.
»Heute Morgen seht ihr beide schon viel besser aus. Hast du gut geschlafen, Luisa?«
Die nickt.
»Ja, habe ich. Außerdem hab ich von Mama geträumt und wie sie sich freut, wenn wir endlich ankommen.«
»Das ist doch gut! Und das wird sie bestimmt auch. Apropos, habt ihr sie eigentlich schon angerufen, dass ihr später kommt? Nicht, dass sie sich Sorgen macht.«
Willi hustet.
»Es soll eher eine Überraschung sein.« Na, wenn Daggi wüsste, wie überraschend unser Aufkreuzen für Sabine sein wird! »Telefonieren würde ich allerdings trotzdem gerne, wenn möglich.«
»Klar, mach ruhig. Das Telefon steht im Arbeitszimmer. Zeige ich dir gleich.«
Karl-Heinz kommt wieder in die Küche.
»So, geht alles klar! Norbert macht die Tour selbst, um 12 Uhr ist er mit dem Verladen fertig. Am besten, wir fahren so gegen 11 Uhr los, dann seid ihr rechtzeitig da.«
Willi fängt an zu lächeln. Erst ganz zurückhaltend und scheu, aber nach kurzer Zeit von einem Ohr bis zum anderen.
»Danke, Karl-Heinz. Das weiß ich sehr zu schätzen.« Er setzt an, noch etwas zu sagen, aber in diesem Moment bricht draußen auf dem Hof unüberhörbar Lärm los. Daggi und Karl-Heinz schauen sich erstaunt an.
»Nanu? Was ist denn da los?«
»Klingt ja fast so, als ob die Schweine verrückt spielen. Ich geh mal raus.«
Die Schweine? Ich ahne Schlimmes. Die Polizei ist da! Mit einem Mal bekomme ich furchtbares Ohrenrauschen. Und ein bisschen Zähneklappern.