Willi nickt.
»Ja, warum?«
»Eine Vorsichtsmaßnahme. Wenn wir den Hof verlassen haben, zieht ihr euch um und lasst die alten Sachen im Auto liegen.«
»Moment«, wendet Karl-Heinz ein, »das geht aber nur, wenn Norbert heute keine Schweine transportiert. Sonst ist es zu gefährlich.«
Daggi rollt mit den Augen.
»Also, jetzt bist du aber übervorsichtig. Das ist doch völlig übertrieben. Und wenn ich mir die Schweine hier so ansehe – die haben doch wahrscheinlich gar nichts.«
Karl-Heinz presst die Lippen aufeinander und schüttelt den Kopf.
»Trotzdem. Ich will nicht schuld sein, wenn was passiert. Ich ruf ihn an.« Er stapft in Richtung Bauernhaus davon.
Virginia drückt mit dem Rüssel gegen den Zaun.
»Na, wie war meine Vorstellung?«
Ich schleiche vorsichtig zu ihr hinüber.
»Sehr überzeugend. Nun glauben alle, ihr hättet die Schweinepest.«
»Auweia! Echt? Na, hoffentlich krieg ich da nicht Ärger. Meine Mama erzählt, dass die Schweinepest etwas ganz Schlimmes ist. In alten Zeiten sind viele Schweine daran gestorben.«
Mit einem Hm, hm lasse ich meine Schnauze sinken.
»Aber was guckst du denn jetzt so traurig? Wir sind die beiden doch super losgeworden. Ich hab gleich gemerkt, dass mit denen was nicht stimmt. Die haben sich nämlich schon über euch unterhalten, als sie aus dem Auto ausgestiegen sind. Ich wusste sofort, worauf das hinausläuft. Meine Geschwister zu überzeugen, ein bisschen Theater zu machen, war dann nicht schwierig – denen war sowieso gerade langweilig.« Sie kichert.
Oh, oh, hoffentlich habe ich sie nicht in große Schwierigkeiten gebracht. Ich merke gerade, wie ich ein sehr schlechtes Gewissen bekomme.
»Herkules!« Willi ruft nach mir. Und zwar ungewohnt energisch. »Komm sofort von den Schweinen weg!« Als ich nicht sofort gehorche, geht er auf mich zu und zerrt mich am Halsband weg. Aua! Nicht so grob! Ich will gerade anfangen zu lamentieren, als Karl-Heinz wieder auftaucht. Er macht eine Bewegung mit den Händen, seine Daumen zeigen nach oben. Ist das ein gutes Zeichen?
»Mit dem Transport geht alles klar, Norbert fährt heute Kühe. Ihr könnt also mit, keine Gefahr.«
Daggi atmet hörbar aus.
»Gott sei Dank! Hast du ihm gesagt, was hier los ist?«
»Nee, natürlich nicht. Ich habe wenig Lust, mir seine Vorträge anzuhören von wegen siehst du, das kann auch einem Ökobauern passieren! Das erspare ich mir lieber. Aber wenn ihr noch rechtzeitig in Nordergellersen sein wollt, müsst ihr jetzt los.«
Karl-Heinz hatte Recht: Dieser Norbert ist wirklich ein Unsympath. Gerade hat uns Daggi am vereinbarten Treffpunkt abgesetzt, und jetzt stehen wir hier wie Piksieben, während uns Norbert mustert, als hätte jeder von uns zwei Köpfe.
Erst sagt er nichts, dann fragt er: »Na, wer seid ihr? Die Bremer Stadtmusikanten? Und den Hahn und den Esel habt ihr vergessen, was?« Er schüttelt den Kopf. »Nee, nee, nee, mein Schwager kennt immer Leute! Ihr gehört doch bestimmt auch zu dieser Öko-Mischpoke. Und is ja mal wieder typisch: Erst uns hart arbeitender Bevölkerung mit euren Predigten das Leben schwer machen, aber dann kein Geld für die Zugfahrkarte und jetzt hier auf Mitleid und für lau mitfahren. Na ja, steigt ein, sonst krieg ich Ärger mit meiner Frau. Die will ja immer, dass ich mich mit ihrem bekloppten Bruder vertrage. Von mir aus. Das nächste Weihnachtsfest kommt bestimmt.«
Wuff! Weihnachten und die Schweinepest. Nach meiner bisherigen Lebenserfahrung ist das wohl die schlimmste Kombination, die überhaupt passieren kann. Jedes für sich genommen schon unschön, aber zusammen? Da möchte ich echt nicht dabei sein.
Willi und Luisa sagen aber nichts zu dem unfreundlichen Norbert, stattdessen hilft Willi Luisa dabei, überhaupt in den Wagen hineinzukommen. Der ist nämlich riesig, größer als unser Auto und sogar größer als ein Feuerwehrauto. Hinten – und das ist jetzt die echte Sensation – hängt sogar ein echter Stall dran. Nicht gelogen: Hinter dem Riesenteil, in dem die Menschen sitzen, befindet sich eine Art große Stallbox auf Rädern. Die Box hat längliche Schlitze, die wie kleine Fenster aussehen. Was sich dahinter verbirgt, kann man zwar nicht genau erkennen, aber man kann es hören und vor allem riechen. Kühe. In jedem Fall Rinder. Genau weiß ich das nicht.
Luisa sitzt, und Willi reicht ihr erst Herrn Beck, dann mich nach oben. Während sie Beck in den Fußraum setzt, darf ich neben ihr auf der Bank hocken, den Kopf auf ihrem Schoß. Neugierig blicke ich mich um. Hoppla! Hier ist deutlich mehr Platz als in den Autos, die ich kenne. Auch das Lenkrad, hinter dem Norbert nun sitzt, ist riesig. Die Fahrerkabine wirkt fast wie ein richtiges Zimmer, und eigentlich ist es ganz gemütlich hier. Norbert hat sich in seinem Wagen häuslich eingerichtet: Es gibt einen Halter, in dem ein Becher steht, im Fach darunter eine Kanne, dem Geruch nach mit Kaffee. Auf dem Boden liegt ein richtiger Teppich, und auf dem Armaturenbrett vor uns kleben jede Menge Fotos von Kindern. Nett! Es sieht fast aus wie auf dem Schreibtisch von Marc in der Praxis. Nun kommt auch Willi hochgeklettert, setzt sich und schnallt sich an.
Norbert wirft ihm einen Blick zu.
»Dann wollen wir mal los, nech? Oder haben wir noch jemanden vergessen?«
»Nein«, antwortet Willi knapp.
»Nach München wollt ihr, hat Kalli gesagt. Also, direkt reinfahren kann ich da mit meinem Transporter nicht. Aber es gibt eine Abfahrt bei dem Fußballstadion, da ist eine U-Bahn-Station. Da setze ich euch ab. Okay?«
»Ja, danke.« Knapp.
»Schätze mal, in neun bis zehn Stunden sind wir da.«
»Okay.« Sehr knapp. Ich ahne es schon: Bei der vor uns liegenden Reise wird der Schwerpunkt nicht auf den guten, wertvollen Gesprächen von Mann zu Mann liegen. Aber das soll mir recht sein. Meistens reden Menschen sowieso zu viel. Kann ich wenigstens ein bisschen pennen. Denn gerade merke ich, dass ich mittlerweile völlig erschöpft bin. Ein Blick auf meine Mitreisenden – denen geht es offenbar ähnlich. Luisa kann die Augen kaum noch aufhalten, hat sich schon an Willi angelehnt. Und ich glaube, Herr Beck pennt bereits. Jedenfalls hat er sich auf dem Teppich im Fußbodenraum zusammengerollt und atmet ganz regelmäßig. Ich schließe die Augen, kuschle mich zwischen Luisa und Willi ein und beginne zu träumen. Von einem fremden Ort namens München, fern von schreienden Babys und tapsigen Welpen.
VIERUNDZWANZIG
Der Geruch von Salami kitzelt in meiner Nase und weckt mich. Er erinnert mich gleichzeitig daran, dass ich ziemlich hungrig bin. Ich öffne die Augen, um zu schauen, ob mir ein freundliches Wesen vielleicht einen Wurstzipfel unter die Nase hält und ich lediglich zuzuschnappen brauche. Aber Fehlanzeige: Luisa und Willi haben nur die Brote ausgepackt, die ihnen Daggi noch beim Frühstück geschmiert hatte. Jaul, denkt denn niemand an die Vierbeiner hier im Wagen? Oder wenigstens an den Hund?
»Guck mal, ich glaube, Herkules ist aufgewacht. Meinst du, er hat auch Hunger?« Luisa ist eben ein sensibles Kind, die gute Freundin.
»Das kann schon sein«, entgegnet Willi, »aber ich glaube, wir haben nichts, was wir ihm so auf der Fahrt geben könnten.« Na super – wie fürsorglich von euch!
»Und außerdem«, mischt sich Norbert ein, »will ich nicht, dass mir das Viech während der Fahrt das Fahrerhaus vollkotzt. Ich hatte mal einen Köter, dem durftest du vor der Fahrt rein gar nichts geben. Hat er in der ersten Kurve alles wieder ausgespuckt. Nee, nee, lass mal lieber warten. Bis München werden die beiden schon nicht verhungern. Sehen ja ganz wohlgenährt aus.«
Wie bitte? Werde ich hier etwa gerade mit dem fetten Kater über einen Kamm geschoren? Ich glaub’s ja nicht! Beleidigt jaule ich auf und hüpfe zu Herrn Beck in den Fußraum. Wenn man uns so direkt nebeneinander sieht, muss doch selbst einem Blinden auffallen, dass unsere Gewichtskategorien geradezu Welten trennen.