„Wie hat sich unsere Lieblingsschamanin in meiner Abwesenheit gemacht?“
„Gut“, antwortete Baine. Sie sprachen über Magatha. „Ich habe sie genau im Auge behalten. Es wäre eine günstige Zeit gewesen, um Ärger zu machen, doch sie hat sich still verhalten.“
Cairne grunzte. „Es könnte allerdings Ärger geben. Der junge Garrosh Höllschrei ist ein Hitzkopf, und ich sah, wie sie die Halle in Orgrimmar verließ, um mit ihm zu sprechen.“
„Ich habe gehört, dass er ein großartiger Krieger ist“, sagte Baine langsam, „aber...“, er grinste, „auch ein Hitzkopf.“
Die beiden Bluthufe lächelten wissend. Cairne schlug seine Hand auf Baines Schulter und drückte fest zu. Baine bedeckte die Hand seines Vaters mit seiner eigenen.
Vor ihnen erhob sich Donnerfels majestätisch in den späten Nachmittagshimmel.
„Willkommen daheim, Vater! Willkommen daheim!“
6
Der Tag war kühl und leicht bewölkt, und als Jaina Prachtmeer die mit einem blaugoldenen Teppich bedeckten Stufen von Sturmwinds glorreicher Kathedrale hinaufging, begann es zu regnen. Ein Teil der Stufen war gesperrt, da sie nach dem Krieg gegen den Albtraum repariert werden mussten. Jaina verzichtete darauf, ihre Kapuze über ihr leuchtend goldenes Haar zu ziehen, und ließ die Tröpfchen auf ihren Kopf und ihr Gesicht fallen. Es schien, als würde der Himmel bei dem Gedanken an die Zeremonie weinen, die gleich in der Kathedrale stattfinden sollte.
Zwei junge Priesterinnen standen neben der Tür, lächelten und machten einen Knicks. „Lady Jaina“, sagte das zur Rechten stehende Mädchen ein wenig stammelnd. Dass sie errötete, war selbst bei ihrer dunklen Haut zu erkennen. „Man hat uns nicht gesagt, dass wir Euch erwarten. Wünscht Ihr, bei Seiner Majestät zu sitzen? Ich bin mir sicher, er würde sich über Eure Gesellschaft sehr freuen.“
Jaina schenkte dem Mädchen ein entwaffnendes Lächeln. „Danke, nein. Ich sitze gern bei den anderen.“
„Dann hier entlang, bitte“, sagte die Zwergenpriesterin und hielt Jaina eine Kerze hin, die noch nicht brannte. „Bitte nehmt das, Mylady, und setzt Euch, wo immer Ihr möchtet. Wir sind froh, Euch hier zu haben.“
Ihr Lächeln war ehrlich, wenn auch dezent und der Ernsthaftigkeit des Augenblicks angepasst. Jaina nahm die Kerze entgegen, trat in die Kathedrale und warf eine Handvoll Goldstücke in den Opferstock, der neben der Priesterin stand.
Sie atmete tief ein. Wegen der hohen Luftfeuchtigkeit in dem Gebäude war der Geruch der Räucherstäbchen viel intensiver als üblich, und in der Kathedrale des Lichts war es dunkler, als sie es in Erinnerung hatte. Die Kerzen brannten rauchend, und Jaina blickte die Reihen der Kirchenbänke auf der Suche nach einem freien Platz entlang. Sie fragte sich, ob es klug gewesen war, das Angebot der jungen Priesterin so schnell abzulehnen. Ah, da war etwas frei. Sie ging den Gang entlang und nickte einem älteren Gnomenpaar dankend zu, das ein wenig zur Seite rückte, um ihr Platz zu machen. Von hier aus hatte sie eine exzellente Sicht. Sie lächelte, als sie die vertrauten Gestalten von König Varian Wrynn und seinem Sohn Anduin sah, die so unauffällig wie möglich aus einem angrenzenden Raum traten.
Eigentlich konnte man Varian nicht wirklich als „unauffällig“ bezeichnen. Es kam ja nicht von ungefähr, dass der Orc Rehgar Erdenwut einen Gladiator aus ihm gemacht hatte, nachdem Varian vor einem Jahr halb ertrunken und ohnmächtig aufgefunden worden war. Ohne jede Erinnerung an seine Vergangenheit, hatte sich Varian gut an den brutalen Lebensstil gewöhnt. Damals hatte er nicht gewusst, dass er in zwei verschiedene Wesen geteilt worden war: Varian, der unter der Fuchtel des Drachen Onyxia gestanden hatte, und Lo’Gosh, ein furchteinflößender und mächtiger Gladiator. Varian verfügte über die Manieren, das Wissen und die Etikette des echten Varian. Lo’Gosh, ein Taurahe-Wort, das „Geisterwolf“ bedeutete und eine wilde Kreatur aus den Legenden bezeichnete, hatte alle Kämpferqualitäten des ursprünglichen Varian besessen. Varian war elegant, Lo’Gosh war stark. Varian war kultiviert, Lo’Gosh war brutal.
Diese beiden Hälften wurden schließlich wiedervereint, jedoch nicht vollständig. Manchmal schien es, dass Lo’Gosh die Oberhand über den großen, kraftvoll gebauten Körper gewann.
Mehr denn je dominierte König Varian Wrynn den Raum. Sein dunkles Haar war zu einem Knoten zusammengebunden, und eine breite Narbe entstellte das einstmals schöne Gesicht.
Anduin war das ganze Gegenteil von seinem Vater. Er war bleich, blond, schlank und ein wenig größer geworden, seit Jaina ihn das letzte Mal gesehen hatte. Obwohl er nicht die imposante Größe seines Vaters geerbt hatte und wohl, wie Jaina glaubte, eher nach seiner gertenschlanken Mutter kam und deshalb niemals ein so großer Mann werden würde wie Varian, war er nun ein Heranwachsender und kein Kind mehr. Anduin lächelte Bruder Sarno und den jungen Thomas an und nickte ihnen zu, als er und sein Vater das Kirchenschiff betraten, um Platz zu nehmen. Vielleicht spürte er Jainas Blick, denn er runzelte die Stirn und sah sich unauffällig um. Er war derart geübt in den Pflichten eines Prinzen, dass er keine Regung zeigte, als er sie erblickte. Doch seine Augen leuchteten, und er grüßte sie mit einem angedeuteten Nicken.
Alle Blicke wandten sich nun vom König und seinem Sohn ab und richteten sich auf Erzbischof Benedictus, der mit gemessenen Schritten zum Altar ging. Mit seiner durchschnittlichen Größe und seinem stämmigen Körperbau vermittelte er eher den Eindruck eines Bauern als eines heiligen Mannes. Er schien nie so richtig in die goldfarbenen und weißen Roben zu passen und sich in ihnen stets etwas unbehaglich zu fühlen. Doch wenn er mit seiner ruhigen, klaren und kräftigen Stimme zu sprechen begann, war es offensichtlich, dass das Licht ihn erwählt hatte.
„Liebe Freunde des Lichts, seid alle willkommen in dieser schönen Kathedrale, die sich niemandem verschließt, der mit offenem Herzen und demütigem Geist eintritt. Dieser Ort hat viele Momente der Freude erlebt und manche der Trauer. Heute haben wir uns hier versammelt, um die Gefallenen zu ehren, sich ihrer zu erinnern, sie zu betrauern und ihrem Opfer für unsere Allianz und für Azeroth Respekt zu zollen.“
Jaina blickte auf ihre Hände, die in ihrem Schoß lagen. Das war einer der Gründe, warum sie nicht an einer gut sichtbaren Stelle der Kathedrale hatte Platz nehmen wollen. Ihre Romanze mit Arthas Menethil war nicht vergessen worden – nicht, als er Prinz war, ganz sicher nicht, als er der Lichkönig wurde, und schon gar nicht jetzt, da er besiegt worden war. Nur wegen ihm war diese traurige Zeremonie erforderlich. Einige der Anwesenden drehten sich zu ihr um, erkannten sie und warfen ihr teilnahmsvolle Blicke zu.
Nicht ein Tag verging, an dem Jaina nicht an Arthas dachte, sich fragte, ob es irgendetwas gab, das sie hätte tun oder sagen können, um den einst strahlenden Paladin von seinem dunklen Pfad abzubringen. Ihre Gefühle hatten sich während des Kriegs gegen den Albtraum gewandelt, als sie in einem Traum gefangen gewesen war, in dem sie ihn in der Tat davon abgehalten hatte, zum Lichkönig zu werden... indem sie an seiner statt zur Lichkönigin wurde...
Sie erschauderte, verdrängte die Gedanken an den schrecklichen Traum und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Erzbischof zu. „... die frostigen Länder weit im Norden“, sagte Benedictus. „Sie erlebten einen schrecklichen Feind mit einer Armee, von der niemand jemals wirklich geglaubt hatte, dass sie besiegt werden könnte. Und dennoch, dank der Segnungen des Lichts und dem Mut dieser Männer und Frauen – Menschen, Zwerge, Nachtelfen, Gnome, Draenei, ja, selbst Mitglieder der Horde – sind wir wieder sicher in unserer Heimat. Die Zahlen der Gefallenen sind erschütternd, und täglich kommen neue hinzu. Um euch ein Gefühl für die Verluste zu geben, wurde jedem Gläubigen hier eine Kerze ausgehändigt. Jede Kerze repräsentiert nicht ein, nicht zehn... sondern einhundert Leben der Allianz, die im Nordendfeldzug ausgelöscht wurden.“