Jaina spürte, wie ihr der Atem stockte. Sie starrte die Kerze an, die sie mit einer Hand umklammerte, und begann plötzlich zu zittern. Sie blickte sich um... Es mussten mindestens zweihundert Menschen in der Kathedrale sein. Und sie wusste, dass sich noch weitere, die an der Erinnerungszeremonie teilnehmen wollten, vor der Kirche versammelten, da die Kathedrale bereits überfüllt war. Zwanzig-, dreißig-, vielleicht vierzig- oder fünfzigtausend Menschen... alle tot. Einen Moment lang schloss sie die Augen und wandte ihre Aufmerksamkeit dann wieder dem Erzbischof zu. Jaina war sich schmerzlich bewusst, dass das Gnomenpaar neben ihr sie anstarrte und sich etwas zuflüsterte.
Als sie laute Stimmen und ein erschrecktes Keuchen aus dem hinteren Teil der Kathedrale vernahm, war sie beinahe erleichtert. Sie wandte sich um und sah zwei wettergegerbte Wächterinnen, die lebhaft mit den beiden Priesterinnen sprachen. Jaina stand auf und begab sich in Richtung des Ausgangs. Dabei bemerkte sie, dass Varian bereits in dieselbe Richtung ging.
Die Menschenpriesterin führte offensichtlich die beiden Wächterinnen gegen den Wunsch der verärgert scheinenden Zwergin in einen Raum auf der linken Seite des Eingangsbereichs. Jaina beeilte sich, zu ihnen zu gelangen. Als sie den Raum betrat, holte Varian sie ein. Sie hatten keine Zeit für eine Begrüßung, tauschten jedoch rasche Blicke miteinander aus.
Varian wandte sich an die beiden Paladine, die ebenfalls dazu-gestoßen waren. „Lord Grayson“, sagte er zu dem großen Mann mit dem schwarzen Haar und einer Augenklappe. „Gebt den Wächterinnen etwas zu essen und zu trinken.“
„Aye, Sire“, sagte der Paladin und beeilte sich, den Auftrag selbst zu erledigen. So waren die Paladine eben: Jeder noch so geringe Dienst, der einem anderen half, war vom Licht erfüllt.
„Setzt Euch“, sagte Varian.
Die größere der beiden Nachtelfen, eine violetthäutige Frau mit weißem Haar, schüttelte den Kopf. „Danke, Euer Majestät, aber das ist kein Höflichkeitsbesuch. Wir kommen mit schlechten Nachrichten und möchten so schnell wie möglich wieder zurückkehren.“
Varian nickte, und sein Körper spannte sich sichtlich an. „Dann berichtet mir.“
Die Nachtelfe nickte. „Ich bin Wächterin Valarya Flusslauf. Das ist Wächterin Ayli Laubflüsterer. Wir kommen mit Berichten über Angriffe der Horde im Eschental. Das Abkommen wurde gebrochen.“
Jaina und Varian schauten sich überrascht an. „Als wir das Abkommen unterzeichneten, wussten wir, dass es auf beiden Seiten einige Schwierigkeiten geben würde“, sagte Jaina zögernd. „Die Grenzen waren lange eine Quelle der...“
„Ich wäre nicht hier, wenn es sich nur um ein Scharmützel handeln würde, Lady Jaina Prachtmeer“, sagte Valarya eisig. „Wir sind keine Anfänger und wissen, dass es bei einem solchen Abkommen die üblichen Anlaufschwierigkeiten gibt. Doch hierbei handelt es sich um etwas anderes. Es war ein Gemetzel. Und das, obwohl die Horde versprochen hat, den Frieden zu wahren!“
Jaina und Varian hörten zu. Jainas Augen wurden immer größer, und Varian ballte langsam seine Fäuste, als sie die Einzelheiten der blutigen Geschichte erfuhren. Ein Dutzend Wächterinnen war überfallen worden, als sie einen Kräuter- und Mineralientransport bewachten, der durch die grünen Wälder des Eschentals führte. Niemand hatte überlebt. Ihr Tod wurde erst entdeckt, als der Treck bereits zwei Tage überfällig war. Die Karren und alles, was sie enthalten hatten, waren verschwunden.
Valarya schwieg und atmete tief durch, wie um sich selbst zu beruhigen. Ihre Wächterschwester trat neben sie und drückte ihre Schulter. Varian runzelte die Stirn, doch Jaina drängte darauf, mit der Unterredung fortzufahren.
„Das ist tatsächlich ein Bruch der Vereinbarung“, sagte sie, „Thrall muss davon erfahren. Doch auch wenn dem so ist: Ich verstehe immer noch nicht, warum Ihr das ein Gemetzel nennt statt eines unglücklichen, aber nicht ungewöhnlichen Zwischenfalls.“
Ayli zuckte und wandte sich ab. Jaina blickte von einer Wächterin zur anderen. Dies waren Kriegerinnen, die wahrscheinlich schon länger kämpften, als Jaina lebte. Was hatte sie so erschüttert?
„Lasst es mich so sagen, Lady Prachtmeer“, sagte Valarya mit zusammengepressten Zähnen. „Wir konnten ihre Leichen nicht mehr bergen.“
Jaina schluckte. „Warum nicht?“
„Weil sie systematisch in mehrere Teile zerhackt wurden“, sagte Valarya, „und diese Teile wurden von Aasfressern weggeschleppt. Das war natürlich, nachdem man ihnen die Haut abgezogen hatte. Wir wissen nicht, ob sie da noch gelebt haben oder nicht.“
Jainas Hand flog zu ihrem Mund. Bittere Galle stieg ihr in die Kehle. Das war mehr als ekelerregend, mehr als grausam...
„Die Haut hing wie Leinen an einem nahe gelegenen Baum. Und darauf standen mit Elfenblut geschrieben Symbole der Horde.“
„Thrall!“, brüllte Varian. Er wirbelte zu Jaina herum und schaute sie wütend an. „Er hat das veranlasst! Und du hast mich davon abgehalten, ihn zu töten, als ich die Möglichkeit dazu hatte!“
„Varian“, sagte Jaina und kämpfte darum, nicht die Fassung zu verlieren. „Ich habe Seite an Seite mit ihm gekämpft. Ich habe geholfen, mehrere Abkommen mit ihm auszuhandeln, Abkommen, die er stets eingehalten hat. Nichts, aber auch gar nichts an dieser Geschichte deutet auf irgendetwas hin, das er tun oder anordnen würde. Wir haben keinen Beweis, dass er diesen Überfall erlaubt hat, und...“
„Keinen Beweis? Jaina, es waren Orcs! Er ist ein Orc, und er ist der Anführer der verdammten Horde!“
Ihr Magen beruhigte sich wieder, und sie wusste, dass sie recht hatte. „Die Defias sind auch Menschen“, sagte Jaina sehr ruhig. „Bist du für deren Taten verantwortlich?“
Varian zuckte zusammen, als wäre er geschlagen worden. Einen Augenblick lang glaubte sie, zu ihm durchgedrungen zu sein. Die Defias waren sein persönlicher Feind und hatten Varian viel genommen. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, und sein finsterer Blick wirkte durch die große Narbe in seinem Gesicht noch schrecklicher. Er sah nicht mehr wie er selbst aus.
Er wirkte wie Lo’Gosh.
„Du wagst es, mich daran zu erinnern?“, knurrte er leise.
„Das tue ich. Jemand muss dich wieder zur Vernunft bringen.“ Sie trat der Wut von Lo’Gosh, dem Teil von Varian, der kalt, schnell und brutal war, nicht mit ihrer eigenen Wut entgegen, sondern bediente sich einer Sachlichkeit, wie sie es schon viele Male zuvor erfolgreich getan hatte.
„Du regierst das Königreich Sturmwind, das mächtigste Reich in der Allianz. Thrall führt die Horde an. Du kannst Gesetze machen, Regeln aufstellen und Abkommen eingehen, und genau das kann auch Thrall. Aber er kann die Handlungen jedes einzelnen seiner Bürger nicht besser kontrollieren als du. Das kann niemand.“
Varian blickte finster drein. „Was, wenn du falschliegst, Jaina? Was, wenn ich recht habe? Du bist ja dafür bekannt, Leute falsch einzuschätzen.“
Jaina zuckte schmerzvoll unter diesen Worten zusammen. Sie brachten Arthas zu ihr zurück. So handelte Lo’Gosh, so hatte er seine Gladiatorenkämpfe gewonnen – hinterhältig, jedes Mittel nutzend. Er wollte um jeden Preis gewinnen. Ihr Albtraum kehrte zurück, aber sie schob ihn beiseite. Jaina atmete tief ein und riss sich zusammen.
„Viele von uns kannten Arthas gut, Varian. Auch du. Du hast jahrelang mit ihm zusammengelebt und das Monster in ihm ebenfalls nicht gesehen. Genauso wenig wie sein Vater oder Uther.“