Die Wachen kannten sie und nickten höflich, als sie eintrat. Mehrere Diener kamen eiligst zu ihr, boten an, ihr den Umhang abzunehmen und ihr ein heißes Getränk zu bringen. Sie winkte alle Angebote ab, lächelte freundlich und dankte für die Aufmerksamkeit. Weil sie eine wohlbekannte Besucherin war, wunderte sich niemand darüber, wo sie hingehen wollte, als sie sich nach dem Weg erkundigte.
Jaina passierte die Empfangsräume und den Thronsaal und gelangte dann in den privaten Bereich der Burg. Sie erreichte ihr Ziel, ordnete ihr feuchtes Haar und klopfte an die Tür zu Anduins Gemächern.
Sie erhielt keine Antwort. Jaina versuchte es erneut. „Anduin? Ich bin es, Jaina“, sagte sie mit gedämpfter Stimme.
Sie hörte das leise Tappen von Füßen, die sich der Tür näherten, dann öffnete sie sich einen Spaltbreit. Ernste blaue Augen blickten zu ihr empor und schließlich an ihr vorbei.
„Ich bin allein“, versicherte sie ihm. Anduin nickte und ging einen Schritt zurück, um sie in sein Zimmer eintreten zu lassen.
Die Burg von Sturmwind war großzügig angelegt, obwohl sie dem Vergleich mit Lordaerons einstigem Palast nicht standhalten konnte. Jaina erinnerte sich an Prinz Arthas’ Räume, als sie Anduins Zimmer betrat. Er war zeit seines Lebens ein Prinz gewesen, während Varians Abwesenheit sogar König, und dennoch war dieser Raum ausgesprochen schlicht und spartanisch eingerichtet. Das Bett war klein und eignete sich eher für das Kind, das er einst gewesen war, als für einen angehenden jungen Mann. Er würde bald ein größeres brauchen, überlegte sie. Anduin wuchs so schnell. Der Bettrahmen war schmucklos, und es gab keinerlei Wandgemälde außer einem Porträt, das Anduin und seine Mutter – Königin Tiffin – zeigte, als der Junge noch ein Säugling gewesen war. Jaina vermutete, dass sie kurz nach Vollendung des Bildes gestorben war – getötet von einem Stein, der sie während eines Aufstands der Defias getroffen hatte. Auf dieses Ereignis hatte sie sich in dem Gespräch mit Varian bezogen, als sie versucht hatte, ihm Thralls Standpunkt zu verdeutlichen. Tiffins Sohn hatte seine Mutter nie kennengelernt.
Ein einfacher Nachttisch mit einem Wasserkrug und einer Waschschüssel stand neben dem Bett. Nur wenige Fuß weit entfernt befand sich eine Kohlenpfanne, um dem Raum im Winter die ärgste Kälte zu nehmen. Eine Tür führte in einen anderen Raum, in dem vermutlich Anduins Kleidung aufbewahrt wurde, da Jaina keinen Kleiderschrank ausmachen konnte. In der Mitte des Raums stand ein einzelner Stuhl vor einem kleinen Tisch, auf dem Bücher, Pergamente, Tinte und eine Schreibfeder lagen. Höflich bot Anduin ihr den Stuhl an, nahm ihr den nassen Umhang ab und hängte ihn an einen Haken. Dann stellte er sich mit verschränkten Armen neben den Stuhl. Er war offensichtlich noch immer wegen der Unterhaltung mit seinem Vater verärgert.
„Du bist völlig durchnässt“, sagte er ohne jede weitere Einleitung. „Lass mich dir heißen Tee bestellen.“
„Danke. Das wäre sehr freundlich.“ Sie lächelte ihn an.
Anduin lächelte zurück, aber es wirkte gekünstelt, und seine Augen blickten sie ausdruckslos an. Er zog an einer Kordel neben der Tür.
„Ich schwöre, dass du so groß wie dein Vater bist, wenn ich dich das nächste Mal besuche“, neckte Jaina den Jungen und hoffte, ihn so ein wenig aufheitern zu können. Sie lehnte sich in dem Stuhl zurück.
Anduin verzog leicht das Gesicht. „Welche Version meines Vaters?“ Seine Stimme war sorgfältig moduliert, wie es sich für einen Prinzen geziemte, doch seine Worte hatten eine Schärfe, die Jaina, die ihn so gut kannte, zurückzucken ließ.
„Dein Vater ist verärgert, dass du das mitbekommen hast“, sagte sie sanft.
„Ich bin mir sicher, dass er das ist“, antwortete Anduin im gleichen Tonfall wie zuvor. „Es gibt noch so viele andere Dinge, die ich in meinem Alter bereits erlebt habe.“
Er stand aufrecht da, seine Hände hinter dem Rücken verschränkt. War er schon jemandem versprochen? Jaina wurde klar, dass sie die Antwort auf diese Frage nicht kannte, und hoffte, dass das nicht der Fall war. Anduin hatte recht. Er hatte schon einiges in seinem kurzen Leben gesehen, und sie wünschte ihm, dass ihm noch etwas Zeit blieb, um einfach nur ein Junge zu sein.
„Oh, hab Erbarmen“, sagte sie und wedelte leicht verärgert mit der Hand. „Du machst mich nervös, wenn du da stehst, als hättest du einen Besen verschluckt. Los, setz dich aufs Bett und rede mit mir. Du weißt, dass mir Förmlichkeiten nicht liegen.“
Wie Eis, das unter den ersten wärmenden Sonnenstrahlen der Frühlingssonne schmolz, bildete sich ein leichtes Lächeln auf Anduins Lippen. Sie winkte ihn zu sich. Sein Lächeln wurde zu einem Grinsen, leicht unsicher zwar, aber immerhin.
Ein leises Klopfen erklang an der Tür. Ein grauhaariger Diener stand im Türrahmen.
„Was kann ich für Euch tun, Euer Hoheit?“
„Etwas Friedensblumentee. Zwei Tassen. Oh...“ Anduin wandte sich an Jaina. „Ist dir kalt? Wyll könnte die Kohlenpfanne für uns anzünden.“
Jaina hob eine Augenbraue und machte eine nachlässige Geste in Richtung der Kohlenpfanne. Augenblicklich fing der Span unter den Kohlen Feuer.
„Nicht nötig, aber trotzdem danke.“
Anduin lachte bei dem Anblick. „Ich vergaß. Dann nur Tee. Oh, und etwas Brot und Honig. Und etwas pikanten Dalarankäse. Und ein paar Äpfel.“ Jaina war gerührt. Anduin erinnerte sich daran, dass Jaina Äpfel und Käse liebte. „Danke.“
Jaina unterdrückte ein Lächeln. Der Junge wurde ganz offensichtlich erwachsen. Nachdem Wyll sich entfernt hatte, kam Anduin ihrer Bitte nach und setzte sich auf sein Bett. Er beobachtete sie mit seinen strahlend blauen Augen, die mehr sahen, als die Erwachsenen vermuteten.
„So, das ist besser. Ich bin nicht hier, um dich zu belehren oder mich für deinen Vater zu entschuldigen“, fuhr Jaina fort. „Ich bin hier, damit du ein wenig Spaß hast, wenn du das möchtest.“
Er hob eine seiner goldenen Augenbrauen. „Oh? Spaß?“ Er betonte das Wort mit übertriebener Verlegenheit. „Was war das noch mal?“
„Etwas, von dem du anscheinend ein wenig mehr brauchst. Dein Vater ist wütend, dass du das mitbekommen hast. Er und ich haben miteinander gesprochen. Wir beide sind der Meinung, dass es dir gefallen könnte, von Zeit zu Zeit hier herauszukommen.“
Er beobachtete sie neugierig. „Was genau schwebt dir vor?“
„Was hältst du davon, mich in Theramore zu besuchen?“ Anduin war bereits einmal während eines schrecklichen Sturms in Theramore gewesen, um an den Friedensverhandlungen teilzunehmen, die so rüde unterbrochen worden waren. Sie hoffte, seine Erinnerungen an diesen Ort ein wenig positiver gestalten zu können.
Doch Anduin schien von der Abenteuerlust der Jugend beseelt zu sein, denn statt unglücklich auszusehen, strahlte er. „Das Grenzgebiet besuchen? Das würde ich sehr gern! Ich bekomme normalerweise nicht viel davon zu sehen. Gibt es dort immer noch Drachenkämpfe?“
„Wohl kaum“, sagte Jaina mit einem spöttischen Seufzer. „Aber ich bin mir sicher, dass es dort mehr als genug Möglichkeiten für einen Dreizehnjährigen gibt, in Schwierigkeiten zu geraten.“
„Fast dreizehneinhalb“, verbesserte Anduin sie mit der Ernsthaftigkeit der Jugend.
„Ja, du hast recht.“
„Aber... es ist eine sehr lange Reise.“
„Nicht für eine Magierin.“
„Nein, natürlich nicht. Ich meinte auch nicht dich, Tante Jaina, ich meinte mich.“
Jaina lächelte. „Ich habe hier eine Kleinigkeit, die dir die Reise ein wenig erleichtern könnte.“ Sie griff in den Beutel an ihrem Gürtel und zog einen kleinen ovalen Kristall hervor, auf dem blasse blaue Runen zu erkennen waren. „Hier! Fang!“
Jaina warf Anduin den Kristall zu. Mit Leichtigkeit fing der Junge den Stein. „Er ist schön“, sagte er nach einem kurzen Blick darauf, untersuchte ihn dann gründlich und fuhr die Runen mit einer Fingerspitze nach.
„Er ist schön und sehr selten. Halte ihn vor dich und schließe nicht deine Finger darum. Erkennst du die Runen?“