„Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal in Durotar den Regen auf meinem Gesicht gespürt habe“, sagte Thrall. „Warum schweigen die Elemente gerade zu dieser Zeit, wenn eindeutig etwas nicht in Ordnung ist?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich erinnere mich an die Ehrfurcht und die Freude, mit der Drek’Thar mich zum Schamanen ernannt hat, aber dennoch höre ich nichts.“
„Vielleicht werden ihre Stimmen von den vielen anderen, denen du derzeit lauschst, ausgelöscht“, vermutete Eitrig. „Um viele Probleme zu lösen, muss man sich manchmal auf ein einziges konzentrieren.“
Thrall bedachte die Worte seines Reisegefährten. Sie erschienen ihm weise. So vieles würde leichter werden, wenn er verstand, was mit diesem Land nicht stimmte und wie er es heilen konnte. Sein Volk hätte zu essen, hätte wieder Schutz. Die Horde würde keinen Grund mehr haben, den anderen etwas wegzunehmen, die nur Bitterkeit und Hass in ihren Herzen trugen. Die Spannungen zwischen der Horde und der Allianz würden abgebaut. Und vielleicht konnte Thrall sich dann darauf konzentrieren, was Eitrig gesagt hatte, und seine Nachfolge regeln, um letztlich Glück und Frieden zu erlangen.
Er wusste genau, an welchem Ort er zuhören konnte.
„Ich war nur einmal im Land meines Vaters“, sagte er dem älteren Orc. „Ich frage mich, ob eine weitere Reise dorthin angebracht wäre. Draenor war eine Welt, die mehr als ihren gerechten Anteil an elementarem Schmerz und Gewalt erfahren hat. Die Scherbenwelt, in die es sich verwandelt hat, könnte sich immer noch daran erinnern. Meine Großmutter, Geyah, ist eine mächtige Schamanin. Sie könnte mich anleiten bei meinem Versuch, den verwundeten Elementen dort zu lauschen. Vielleicht haben die Schamanen dort Wissen aus dem Schmerz ihrer eigenen Welt erlangt, das uns helfen könnte, die Schmerzen Azeroths zu lindern.“
Etrigg grunzte, doch Thrall kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass das Glimmen in seinen Augen Zustimmung signalisierte.
„Je rascher du das tust, desto eher schaukelst du ein kleines Kind auf deinen Knien“, sagte er. „Wann willst du aufbrechen?“
Thrall, dessen Herz durch die Entscheidung erleichtert war, lachte.
9
Jaina ruderte gleichmäßig, tief in Gedanken versunken. Etwas beunruhigte Thrall, etwas Wichtigeres als die gegenwärtige Situation. Er war ein intelligenter, fähiger Anführer, mit einem großen Herzen und einem weisen Geist. Doch Jaina war überzeugt, dass die Billigung des brutalen Angriffs im Eschental zu nichts Gutem führen konnte. Zwar würde sich Thrall möglicherweise das Wohlwollen seines Volkes erhalten, doch zugleich würde er das der Allianz verlieren – zumindest das, was von dem einstigen Vertrauen noch übrig war. Sie musste herausfinden, was hinter alldem steckte, und dann sofort handeln. Ein zweiter Zwischenfall wie im Eschental würde schreckliche Auswirkungen haben.
Sie legte an, vertäute die kleine Jolle und ging gedankenverloren zur Burg. Jaina sorgte sich um Thrall und seine Beziehung zur Horde. In der langen Zeit, die sie ihn nun schon kannte, hatte er niemals so unsicher gewirkt. Sie war fassungslos angesichts seiner Entscheidung, wie weiter zu verfahren sei. Thrall würde in seinem Herzen solch unnötige Gewalt niemals dulden. Aber wie konnte er es dann nach außen hin?
Die Herrscherin von Theramore lächelte den Wachen flüchtig zu und stieg den Turm zu ihren privaten Gemächern hinauf. Dann war da noch Varian, der sich noch immer damit schwertat, seine beiden Ichs miteinander in Einklang zu bringen – das war offensichtlich. Es wäre besser gewesen, er hätte ein wenig Ruhe gehabt, doch das ließ das Schicksal nicht zu. Die Allianz war von einem Mann – wenn man ihn denn noch so nennen wollte – in den Krieg getrieben worden, der einst ihr Jugendfreund gewesen war und nun Zehntausende Lebewesen abgeschlachtet hatte. Und was war mit dem jungen Anduin? Er war fähig, jung, einfühlsam und schlau. Aber er wollte einen Vater, der ein Vater war, nicht jemanden, der...
Sie betrat die Wohnstube, wo ein behagliches Feuer im Kamin prasselte. Es war später Nachmittag, und aus diesem Grund war sie nicht überrascht festzustellen, dass die Diener den Tisch für den Tee gedeckt hatten.
Sie war jedoch überrascht, den blonden Heranwachsenden zu sehen, der eine Tasse samt Untertasse auf seinem Schoß balancierte und sich mit einem verschmitzten Grinsen zu ihr umwandte.
„Hallo, Tante Jaina“, sagte er. „Dein Ruhestein funktioniert einwandfrei.“
„Herrje, Anduin!“, sagte Jaina, erschreckt, aber erleichtert. „Wir haben uns doch erst vor wenigen Tagen getroffen!“
„Ich hatte dich gewarnt, dass du mich jetzt öfter sehen würdest“, sagte er neckend.
„Nun, dann ist das mein Glück.“ Sie fuhr ihm liebevoll durch sein Haar und ging zur Anrichte, um sich eine Tasse Tee einzuschenken.
„Warum hast du diesen hässlichen Umhang an?“, fragte Anduin.
„Ach der“, sagte Jaina. „Ich wollte keine Aufmerksamkeit erregen. Du möchtest doch auch nicht immer erkannt werden, wenn du ausreitest, oder?“
„Mir macht das nichts aus“, sagte Anduin. „Aber ich habe ja auch keine geheimen Treffen mit irgendwelchen Orcs mitten im Nirgendwo.“
Jaina wirbelte herum und verschüttete ihren Tee. „Woher...“
„Ja!“ Anduin schaute entzückt drein. „Ich hatte recht! Du warst unterwegs, um dich mit Thrall zu treffen.“
Jaina seufzte und wischte über ihr Kleid, dankbar, dass es nur das grobe, schmutzige war und nicht ihr schönes Alltagskleid. „Du bist scharfsinniger, als gut für dich ist, Anduin“, sagte sie.
Anduin war sichtlich ernüchtert. „So habe ich überlebt“, sagte er ernst. Jaina spürte, wie sich ihr Herz vor Mitgefühl für den Jungen zusammenzog, doch er suchte keinen Trost. „Ich muss zugeben, ich bin überrascht, dass du dich mit ihm triffst. Von den Wächterinnen habe ich erfahren, dass der Angriff recht brutal gewesen ist. Keine Sache, die Thrall gutheißen würde.“
Sie hielt ihre Teetasse in der Hand, ging zum Kamin und zog sich einen Stuhl heran. „Das ist deshalb so, weil er es nicht gutgeheißen hat.“
„Also wird er sich entschuldigen und die Mörder ausliefern?“
Jaina schüttelte den Kopf. „Nein. Es wird eine Entschuldigung geben, jedoch nur für den Bruch des Vertrages. Dafür, wie der Zwischenfall abgelaufen ist, wird er nicht um Entschuldigung bitten.“
Anduin schaute überrascht. „Aber... wenn Thrall doch nicht dafür verantwortlich war und er es nicht gutheißt – warum tut er es dann nicht? Wie will er so das verlorene Vertrauen wiedererlangen?“
Ja, wie will er das?, überlegte Jaina, sagte es jedoch nicht. „Eines der Dinge, die du noch lernen musst, Anduin, ist, dass du manchmal nicht das tun kannst, was du gerne tun würdest oder für das Richtige hältst – zumindest nicht sofort. Thrall will sicherlich keinen Krieg mit der Allianz. Er will zu unser aller Vorteil kooperieren. Aber die Horde denkt über viele Dinge anders als die Allianz. Die Demonstration seiner Macht und Stärke ist der Schlüssel für die Fähigkeit eines Anführers, über sie zu herrschen.“
Anduin runzelte die Stirn. „Das klingt wie Lo’Gosh“, murmelte er.
„Ironischerweise ja. Dieser Aspekt deines Vaters passt recht gut zur Mentalität der Horde“, sagte Jaina. „Das ist einer der Gründe, warum er als Gladiator so erfolgreich war, während seiner kurzen... Karriere.“
„Also kann Thrall nicht riskieren, das Verbrechen jetzt zu verurteilen, meinst du das?“ Anduin steckte sich einen mit Sahne und Marmelade bestrichenen Keks in den Mund. Für einen kurzen Augenblick wurden Jainas Sorgen bezüglich der Gefahr eines neuen Krieges durch den Gedanken verdrängt, ob sie ausreichend Gebäck und kleine Sandwiches im Haus hatte, um den Appetit des Heranwachsenden zu stillen. Sie seufzte. Wäre doch das Füllen von Anduins Magen das drängendste ihrer Probleme!