„Im Wesentlichen stimmt das.“ Sie wollte keine Details enthüllen, und fügte deshalb lediglich hinzu: „Aber ich weiß, dass er es nicht tun wird, und ich weiß ebenso, dass er selbst darüber mehr als entsetzt ist.“
„Glaubst... du, dass er so etwas noch einmal zulassen wird?“
Es war eine ernsthafte Frage, die einer ebenso ernsthaften und wohlüberlegten Antwort bedurfte. Sie nahm sich ausreichend Zeit, bevor sie antwortete.
„Nein“, sagte sie schließlich. „Das ist leider nur meine Meinung, aber ich glaube, das hat ihn überrascht. Nun weiß er davon.“
Anduin leerte seine Tasse, stand auf und ging zur Anrichte, um sich frischen Tee einzugießen und kleine Küchlein und Sandwiches auf seinen Teller zu häufen. „Du hast recht, Tante Jaina“, sagte er ruhig. „Manchmal kann man nicht das tun, was man will. Es gilt, auf die richtige Zeit zu warten und darauf, dass man genügend Unterstützung hat.“
Jaina lachte in sich hinein. Dieser Junge war bereits im Alter von zehn Jahren König gewesen. Natürlich hatte er in Gestalt von Hochlord Bolvar Fordragon einen klugen Ratgeber gehabt, doch sie wusste, dass er viele Dinge selbst entschieden und erledigt hatte. Vielleicht hatte er nie eine so weitreichende Entscheidung treffen müssen wie Thrall, doch er konnte sich sicher in ihn einfühlen.
Wie so oft vermisste sie die weisen, ironischen Bemerkungen Magna Aegwynns. Sie wünschte, die große Lady, die frühere Wächterin von Tirisfal, würde noch leben, um ihren klugen, wenn auch nicht selten scharfzüngigen Rat beizusteuern. Was hätte Aegwynn mit Anduin gemacht, diesem zu ernsten, aber gutherzigen Jungen, der hier an ihrem Feuer saß?
Jainas Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Sie wusste genau, was Aegwynn getan hätte: die Situation entspannen.
„Nun, Anduin“, sagte Jaina, und spürte beinahe körperlich die Gegenwart der weisen alten Frau. „Erzähl mir alles über den neuesten Klatsch bei Hofe.“
„Klatsch?“ Anduin schaute sie ungläubig an. „Darum habe ich mich nie geschert.“
Jaina zuckte mit den Achseln. „Dann erfinde eben etwas.“
Anduin kehrte drei Minuten zu spät nach Sturmwind zum Essen zurück, materialisierte sich in seinem Zimmer und stellte fest, dass Wyll seine Kleidung bereits herausgelegt hatte. Er spritzte sich schnell etwas Wasser aus der Waschschüssel ins Gesicht, legte für das Abendessen förmliche Kleidung an und huschte nach unten, um zu seinem Vater zu stoßen.
Es gab Räumlichkeiten für große Bankette, aber für gewöhnlich nahmen Anduin und sein Vater ihre Mahlzeiten in Varians Privatgemächern ein. Die letzten Male waren diese steif und ungemütlich verlaufen. Zwischen Varian und Anduin Wrynn stand der Schatten Lo’Goshs. Doch nun, als er auf seinem Stuhl saß und nach seiner Serviette griff, blickte Anduin die Tafel hinunter und betrachtete seinen Vater ohne die Verärgerung, die seinen Blick zuvor stets getrübt hatte. Durch den Besuch bei Jaina war sein Kopf frei geworden. Es war gut gewesen, Sturmwind für eine kurze Weile zu entfliehen.
Als er seinen Vater anblickte, sah er nicht Lo’Gosh. Er sah einen Mann, der allmählich kleine Fältchen um die Augen herum bekam. Es waren Zeichen des Alters und der Müdigkeit, nicht des Kampfes. Er sah die Anspannung, die von den zahllosen Entscheidungen herrührte, die Varian tagtäglich zu treffen hatte, Entscheidungen die Geld kosteten oder eine noch wertvollere Währung, nämlich Leben. Er hatte kein Mitleid mit seinem Vater –Varian brauchte das auch nicht –, er empfand Mitgefühl.
Varian blickte auf und warf seinem Sohn ein müdes Lächeln zu. „Guten Abend, Sohn. Wie war dein Tag? Hattest du ein wenig Spaß?“
„Allerdings“, sagte Anduin und tauchte seinen Löffel in die gehaltvolle Schildkrötensuppe. „Ich habe Tante Jainas Ruhestein benutzt, um ihr einen Besuch abzustatten.“
„Ach, du hast es tatsächlich getan?“ Varians braune Augen schauten interessiert. „Wie hat es funktioniert? Hast du etwas erfahren?“
Anduin zuckte mit den Achseln. Plötzlich überkamen ihn Zweifel. Es schien so aufregend gewesen zu sein, doch jetzt, als er sich daran erinnerte und seinem Vater davon berichten wollte, war es... nun, es war einfach nur ein Besuch zum Tee gewesen und nicht viel mehr.
„Wir haben über einige Dinge gesprochen. Und... ahm... Tee getrunken.“
„Tee?“
„Tee“, bestätigte Anduin. „Es ist kalt und feucht in Theramore. Da kann es nicht schaden, Tee zu trinken und etwas zu essen.“
Varian schüttelte den Kopf und griff nach einer Scheibe Brot und dem Käse. „Nein, das kann nicht schaden. Und sicherlich warst du in guter Gesellschaft. Habt ihr über die aktuelle Lage gesprochen?“
Anduin spürte, dass er errötete. Er wollte Jaina nicht verraten, auch nicht unabsichtlich. Doch ebenso wenig wollte er seinen Vater anlügen. „Kurz.“
Ein scharfer Blick huschte über Anduins Gesicht. Lo’Gosh war nicht anwesend. Doch Anduin spürte, dass er nicht fern war. „Hast du Orcs gesehen?“
„Nein.“ Diese Frage konnte er ehrlich beantworten. Er spielte mit seiner Suppe, denn der Appetit war ihm schlagartig vergangen.
„Ah, aber Jaina schon.“
„Das habe ich nicht gesagt...“
„Ist schon in Ordnung. Ich weiß, dass sie und Thrall sich gut verstehen. Ich weiß auch, dass Jaina die Allianz niemals verraten würde.“
Anduins Gesicht hellte sich auf. „Nein, das würde sie wirklich nicht. Niemals.“
„Du... sympathisierst mit ihr, oder? Und mit den Orcs oder der Horde?“
„Ich... Vater, wir haben vor Kurzem so viele Menschenleben verloren“, platzte Anduin heraus, legte den Löffel beiseite und betrachtete Varian aufmerksam. „Du hast Erzbischof Benedictus gehört. Beinahe fünfzigtausend! Ich weiß, dass viele unserer Leute von der Horde getötet wurden, aber viele andere wurden es nicht, und die Horde erlitt ebenfalls schreckliche Verluste. Sie ist nicht der Feind, sie...“
„Ich weiß nicht, welchen anderen Begriff du benutzen würdest, um jemanden – etwas – zu beschreiben, der den Wächterinnen das antun würde, was die Orcs ihnen angetan haben.“
„Ich dachte...“
„Oh, Thrall hat auf mein Schreiben geantwortet, den Bruch des Vertrags verurteilt und mir versichert, dass er alles unternimmt, damit so etwas nicht noch einmal geschieht. Aber glaubst du, er hätte auch nur ein Wort zu dem gesagt, was den Elfen angetan wurde? Nichts! Wenn er so zivilisiert ist, wie du und Jaina glauben, warum schweigt er dann zu einer so grausamen Tat?“
Anduin blickte seinen Vater traurig an. Er konnte nicht sagen, was er wusste, und selbst wenn er es gekonnt hätte, stammten seine Informationen aus zweiter Hand. Er fragte sich, ob er jemals das Wesen der Politik wirklich verstehen würde. Jaina, Aegwynn und sogar sein Vater hatten seine Klugheit gelobt, doch er fühlte sich verwirrter denn je... und das in nahezu jeder Hinsicht. Was er wusste, beruhte mehr auf Intuition als auf Logik, und das war etwas, das weder Varian noch Lo’Gosh wirklich verstehen würden. Er wusste nur, tief in seinem Innern, dass Thrall nicht so war, wie Varian ihn sah. Doch er konnte es einfach nicht besser erklären.
Varian beobachtete seinen Sohn scharf und seufzte im Stillen. Er mochte Jaina, er respektierte sie, doch sie war keine Kriegerin. Er war nicht gegen friedliche Beziehungen mit den ehemaligen Feinden seines Volkes, wie Anduin zu glauben schien, und seine Zustimmung zu dem Waffenstillstand war der Beweis dafür. Es war nur so, dass die Sicherheit seines Volkes für ihn an erster Stelle stand. Nur ein Narr streckte die Hand der Freundschaft aus, wenn sie höchstwahrscheinlich abgeschlagen wurde.
Anduin war nicht schwach. Das hatte er immer wieder bewiesen in Situationen, die andere, die doppelt so alt waren wie er, in Panik und Verzweiflung gestürzt hätten. Doch er war ... Varian suchte nach dem richtigen Wort und fand es schließlich: weich. Anduin war nicht der Beste im Umgang mit schweren Waffen, doch das Bogenschießen und Messerwerfen beherrschte er perfekt. Vielleicht fehlte ihm noch das Verständnis dafür, was einen Krieger auszeichnete, und er war zu gutherzig. Dieser Wesenszug konnte eines Tages seinen Tod bedeuten.