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Aber er hatte keine Gefährtin und ebenso wenig ein Kind. Vielleicht war das auch gut so. Er musste keine trauernde Familie zurücklassen, wenn er irgendwann einmal ging, nur die Horde, die lernen musste, ohne ihn auszukommen. Vielleicht konnte sie das jetzt schon – für eine kurze Zeit zumindest, damit er nach Nagrand reisen konnte, um herauszufinden, was mit den Elementen los war, und um ihr merkwürdiges Verhalten zu beenden, das so viele Leben forderte.

Für einen Moment schloss er die Augen. Die Kontrolle der Horde, die er gegründet hatte, abzugeben, war, als gäbe man ein geliebtes Kind in die Obhut eines anderen. Was, wenn irgendetwas schiefging?

Doch etwas ging bereits schief. Ein anderer würde die Horde eine Zeit lang anführen müssen. Thrall nickte und spürte, wie sich sein Herz und seine Seele etwas beruhigten. Ja, das war es, was er tun musste. Die Frage war nicht mehr, ob er es tun sollte, sondern wann. So schnell wie möglich. Nun musste er entscheiden, wem er sein geliebtes „Kind“ anvertrauen sollte.

Der Erste, der ihm einfiel, war Cairne, sein ältester Freund in Kalimdor. Cairne und er dachten in vielen Dingen gleich, und er war weise und regierte sein Volk gut. Doch Thrall war ebenso wie seinem Freund bekannt, dass einige Hordemitglieder Cairne für altmodisch hielten und als jemanden betrachteten, der nicht wusste, was die Horde wirklich brauchte. Schon jetzt sorgten die Grimmtotems für Unruhe in Cairnes Stadt. Wie sehr würden die Unruhe und das Gerede erst zunehmen, wenn Thrall einen ältlichen Tauren zum Führer der Horde machte?

Nein, Cairne würde zwar definitiv eine wichtige Rolle zukommen, doch es konnte nicht die des Anführers sein. Ein Orc wäre besser geeignet, einer, den das Volk kannte und respektierte.

Thrall seufzte schwer. Die perfekte Wahl war eine, die er nicht treffen konnte – Saurfang, der Jüngere, charismatisch und für sein Alter bereits sehr weise, war einer der hellsten Sterne am Himmel der Hordekrieger gewesen, bevor er aufgrund eines niederträchtigen Verrats getötet worden war. Sein Vater war zwar nicht völlig gebrochen, doch von den jüngsten Ereignissen stark mitgenommen. Der Orc war auch zu alt, so wie Cairne und sein Berater Etrigg. Thrall erkannte, dass es nur eine Wahl gab, und er verzog das Gesicht.

Es gab nur einen, der als Anführer in Betracht kam, einen Einzigen, der jung und lebendig war, den jeder kannte, der von allen geliebt wurde und der zudem ein unvergleichlicher Krieger. Einer, der die verschiedenen Fraktionen der Horde vereinigen konnte und sie auch noch mit Stolz erfüllte.

Eine perfekte Galionsfigur.

Thralls Blick wurde immer finsterer. Ja, Garrosh wurde geliebt, und er war ein guter Kämpfer, wenngleich etwas unbesonnen und impulsiv. Thrall war gerade dabei, ihm die absolute Macht zu überlassen. Ein Wort ging ihm durch den Kopf: Thronräuber. Doch er glaubte nicht wirklich, dass etwas Derartiges geschehen würde. Garrosh brauchte etwas, das sein Ego befriedigte – ein Ego, an dessen Größe er nicht ganz unschuldig war, wie Thrall jetzt erkannte. Er hatte sich gesorgt, weil Garrosh seinen Vater verachtete, und hatte ihm zeigen wollen, dass Grom Höllschrei viel Gutes für die Horde getan hatte. Doch vielleicht hatte er ein besseres Bild von Grom entstehen lassen, als es den Tatsachen entsprach. Wenn dem so war, dann war er für die Arroganz des jüngeren Höllschrei zumindest zum Teil verantwortlich. Er hatte Groms Leben nicht retten können, und deshalb hoffte er, dessen Sohn unterstützen und an die Hand nehmen zu können.

Dennoch, Etrigg wäre hier, um Garrosh zu beruhigen, und ebenso Cairne, wenn Thrall seine alten Freunde darum bat. Außerdem würde er ja nicht lange fort sein. Sollte Garrosh doch ruhig für eine gewisse Zeit seinen Platz in der Feste Grommash einnehmen, mit Cairne und Etrigg an seiner Seite. Garrosh hatte sich bereits eine eigene Meinung über den Zwischenfall im Eschental gebildet, und Thrall wusste, dass Cairne sich eher auf den Orc draufsetzen würde, als ihm irgendetwas durchgehen zu lassen. Es gab nicht viel, was Garrosh tun konnte, um der Horde wirklich zu schaden. Im Gegensatz dazu – das musste Thrall sich eingestehen – konnte Garrosh viel tun, um sie zu begeistern.

Ihr Anführer wäre fort. Sie würden vermutlich ängstlich und besorgt sein, doch Garrosh würde sie daran erinnern, dass sie stolz, wild und unbesiegbar waren, und die Horde würde jubeln und zufrieden sein, wenn Thrall mit der wahren Antwort auf die Probleme, die sie quälten, zurückkehrte. Er würde das Land beruhigen. Dies war seine Chance, alles zum Besseren zu wenden. Wenn er das Land und die Elemente jedoch ignorierte, würde kein glorreicher Sieg im Kampf jemals die Katastrophen wettmachen, die dann unausweichlich folgen mussten.

Garrosh salutierte, als er vor Thrall stand. „Ich bin hier wie befohlen, Kriegshäuptling. Wie kann ich der Horde dienen?“

„Genau aus diesem Grund habe ich dich hierher gerufen. Komm mit mir.“

Thrall hatte auf dem Thron gesessen, als Garrosh eingetroffen war, flankiert von vier großen, einschüchternden Kor’kron. Er hatte einen von ihnen vorausgeschickt, um den jungen Orc eine Weile warten zu lassen, und keine Anstalten getroffen aufzustehen, während Garrosh keine andere Wahl blieb, als vor ihm stehen zu bleiben. Thrall erhob sich nun, langsam und kontrolliert, und breitete die Arme zu einer freundlichen, leicht väterlichen Geste des Willkommens aus. Garrosh musste lernen, wo sein Platz war, bevor Thrall ihn positiv beeinflussen konnte.

Er nickte dem Kor’kron zu, der zackig salutierte und blieb, wo er war, als Thrall Garrosh in seine privaten Gemächer führte. Hier konnten sie miteinander sprechen, ohne dass ihnen jemand zuhörte. „Du weißt, ich bin ebenso sehr Schamane wie Krieger“, sagte Thrall.

„Natürlich.“

„Du hast selbst genug gesehen, um zu wissen, dass die Elemente zutiefst verstört sind. Beispielsweise diese merkwürdigen Wellen, denen ihr auf dem Heimweg von Nordend begegnet seid, oder das Feuer, das in Orgrimmar getobt hat.“

„Ja, das ist mir bewusst. Aber wie kann ich daran etwas ändern?“

„Das kannst du nicht. Doch ich kann es.“

Garroshs Augen verengten sich. „Und warum tust du dann nichts, Kriegshäuptling!“

„Ich kann nicht als Kriegshäuptling etwas dagegen unternehmen, Garrosh, sondern nur als Schamane. Du stellst dieselbe Frage, mit der ich gerungen habe: Warum tue ich es nicht? Die Antwort ist: Es zu tun, würde bedeuten, dass ich Orgrimmar und Azeroth verlassen muss.“

Garrosh schaute alarmiert. „Azeroth verlassen? Das verstehe ich nicht!“

„Ich werde nach Nagrand reisen. Die Schamanen dort gehen mit Elementen um, die schrecklich gelitten haben. Dennoch gibt es Orte, an denen das Land noch immer grün ist. Vielleicht kann ich in Erfahrung bringen, warum das so ist... und dieses Wissen unseren bedrohten Elementen hier anbieten.“

Garrosh lächelte und entblößte dabei seine großen Hauer. „Meine alte Heimat“, sagte er. „Ich würde sie gern wiedersehen. Mit der Großmutter reden, bevor sie uns verlassen hat, um mit den Ahnen zu ziehen. Sie war es, die mich und so viele andere geheilt hat, als die roten Pocken uns befallen hatten.“

„Sie ist ein großer Schatz“, stimmte Thrall zu, „und einer, dessen Weisheit ich suche.“

„Wirst du bald zurückkommen?“

„Das... weiß ich nicht“, sagte Thrall ehrlich. „Es könnte einige Zeit dauern, das zu lernen, was ich lernen muss. Ich vermute, ich werde nicht allzu lange fort sein, doch es könnten schon einige Wochen sein, vielleicht sogar Monate.“

„Aber... die Horde! Wir brauchen einen Kriegshäuptling!“

„Ich gehe ja nach Nagrand, um der Horde zu helfen“, sagte Thrall. „Sorge dich nicht, Garrosh. Ich werde sie nicht im Stich lassen. Ich reise dorthin, um der Horde zu dienen. Es geht nicht anders. Wir alle dienen der Horde. Selbst ihr Kriegshäuptling tut das – vielleicht sogar gerade der Kriegshäuptling. Und ich weiß sehr gut, dass auch du ihr treu dienst.“