Rohan blickte auf. Seine Augen wirkten älter, als Anduin sie je gesehen hatte. „Prinz Anduin“, sagte er. „Ich habe mir gedacht, dass Ihr kommen würdet. Ihr kennt Euch ein wenig mit Erster Hilfe aus, oder?“
Anduin nickte. „Ich bin zwar kein Zwerg, doch ich habe einen recht starken Rücken“, sagte er. „Ich habe gehört, dass in einigen Gebäuden Leute eingeschlossen sind.“
„Aye“, sagte Rohan. „Die Heiler sind nur wenige und haben keine starken Rücken. Aerin, geht und helft den anderen. Ich gebe dem Jungen hier Arbeit.“
„Aye“, sagte Aerin. „Holen wir diese Leute aus der Gefahr und an die frische Luft!“
Während der nächsten Stunden arbeitete Anduin unablässig. Als immer mehr Opfer aus dem Geröll gezogen wurden, heilte Rohan diejenigen, die am schwersten verletzt waren. Die Verletzten, die leichtere Wunden davongetragen hatten, überließ er Anduin. Der Prinz reinigte die Wunden, verband sie, lächelte, und irgendwann bemerkte er, dass Rohan ihn zufrieden beobachtete.
Während er die Verletzten versorgte, dachte er über seinen Vater nach. Varian war ein Krieger. Anduin wusste, dass er das nicht war. Kämpfe und der Gedanke daran, anderen Verletzungen zuzufügen, hatten dem Menschenprinzen niemals dieses Gefühl der Freude gegeben, das er jetzt empfand, während er Leid linderte, statt es zu verursachen, den Leuten half, statt sie zu verletzen. Natürlich war der Krieg manchmal eine düstere und schreckliche Notwendigkeit, so wie in Nordend, doch Anduin wusste tief in seinem Herzen, dass er sich stets nach Frieden sehnen und sich immer darum bemühen würde. Die Verletzungen, die die Leute hier davongetragen hatten, waren schlimm genug. Anduin wollte nicht darüber nachdenken, wie er sich fühlen würde, wenn er diese Verwundeten in der Schlacht behandeln müsste und nicht nach einer Naturkatastrophe.
Jemand hatte einen Kessel mit Schnee gefüllt und über ein Feuer gehängt. Das Wasser war heiß und sauber. Anduin schüttete einige Tropfen eines Heiltranks in einen Krug und fügte mehrere Blätter der Friedensblume hinzu. Dann gab er den Krug einer jungen Gnomenmutter. Sie ließ ihre beiden Kinder, einen Säugling und ein Kleinkind, daraus trinken, bevor sie selbst das Gefäß zum Mund führte.
„Ihr seid sehr freundlich, Sire“, sagte sie. „Danke.“
„Gern geschehen“, gab Anduin zurück, tätschelte den kleinen Kopf des Säuglings und ging zu einem mürrischen älteren Zwerg, der lautstark mit einer Heilerin stritt. Die Priesterin, eine Nachteile, die in Kharanos zu Besuch weilte, betupfte einen stark blutenden Schnitt auf der Stirn des Zwerges.
„Mir geht es gut, verdammt noch mal. Geht und kümmert Euch um jemanden, der wirklich verwundet ist. Sonst könnt Ihr Euch mit einer gebrochenen Nase in die Warteschlange einreihen!“
„Sire, wenn Ihr bitte stillhalten könntet...“
„Ich will nicht, dass Ihr Eure wertvollen Heilkünste für einen unbedeutenden Schnitt vergeudet!“, bellte der Zwerg. „Warum...“
Die Erde bebte erneut. Dieses Mal hatte Anguin das Gefühl, auf einem bockenden Pferd das Gleichgewicht halten zu müssen. Er stürzte hart auf den gefrorenen Boden. Wütend und wild rumpelte es unter ihm. Schützend legte er die Hände um seinen Kopf, hielt den Atem an und wartete darauf, dass das Beben nachließ. Überall um ihn herum hörte er Schreie, hoch und erschreckt, und ein dumpfes, knackendes Geräusch. Anduin kämpfte gegen die Angst an, während er die Augen fest zukniff und zum Licht betete. So etwas hatte er nicht erwartet. Das erste Beben hatte er gut überstanden, doch nun schien ihn die Vernunft verlassen zu haben. Er wurde sich bewusst, dass sich unter die Schreie, die überall erklangen, auch seine eigenen mischten.
Etwas Warmes und Beruhigendes erfasste ihn, und er spürte die vertraute Berührung durch das Licht. Der Druck auf seiner Brust schwand plötzlich, und er konnte wieder frei atmen. Die Erde hob sich noch immer unter ihm, doch er konnte jetzt wieder klar denken und war in der Lage, seine Gefühle zu kontrollieren, und nicht umgekehrt. Auch die anderen schienen ruhiger zu werden. Das schreckliche Geräusch der Schreie mischte sich nicht mehr mit dem Grummeln der bebenden Erde.
Es schien ewig zu dauern, doch irgendwann klang das Nachbeben ab. Anduin hob vorsichtig den Kopf. Sein Atem kondensierte in der kalten Luft, als er sich umsah. Die Gnomenfrau und ihre Kinder waren in Ordnung. Dasselbe galt auch für den mürrischen Zwerg und die Elfe, obwohl beide kreidebleich vor Schreck und Angst waren. Wo war... ah... da war Rohan. Er musste es gewesen sein, der ihn und die anderen beruhigt hatte, indem er das Licht benutzte, um sie vor dem lähmenden Angriff der Angst zu schützen. Anduin legte die Hände auf die Erde und ertastete etwas Feuchtes. Eine schreckliche Sekunde lang dachte er, dass es Blut sei, doch es war braun und kalt. Was... Langsam erhob er sich auf die Beine und starrte auf die Flüssigkeit an seinen Händen. Vorsichtig roch er daran.
Es war... Bier.
Eine Sekunde lang schossen ihm alle möglichen Gedanken durch den Kopf, doch dann wurde ihm klar, was geschehen sein musste. Er wirbelte herum und sah mehrere zerbrochene Fässer und eine unheilvolle weiße Schicht, wo einst ein Gebäude gestanden hatte.
Die Brauerei Donnerbräu war eingestürzt, und der Schnee, der von dem hinter der Brauerei gelegenen Berg herabgerutscht war, hatte die Ruine zugedeckt.
„O Licht“, stöhnte Anduin. Diese Worte waren eine innige Bitte um Hilfe, als er auch schon zu laufen begann und nach einigen Sekunden dort ankam, wo einmal ein gemütliches Gasthaus gestanden hatte. Andere Zwerge traten zu ihm, riefen sich Ermutigungen zu, nahmen Schaufeln zur Hand und begannen zu graben. Auch ein Gnomenmagier eilte in seiner vor Erregung flatternden Robe herbei. „Keine Panik! Ich kann den Schnee schmelzen!“, rief er und bereitete sich darauf vor, seine Worte in die Tat umzusetzen.
„Nein!“, brüllte Anduin. „Ihr überflutet alles!“
Der Gnom mit seinem leuchtend roten Haar, das zu zwei Zöpfen geflochten war, schaute ihn an, nickte jedoch zustimmend, als er die Logik in Anduins Worten erkannte.
„Wind“, erklang eine sanfte Stimme. Eine elegante, langbeinige Draeneifrau trat vor und blickte Anduin an. Er fragte sich, wie es geschehen konnte, dass ein dreizehnjähriger Junge hier plötzlich das Kommando hatte, und dachte verzweifelt nach. Ja... richtig geleitet und kontrolliert konnte der Wind den Schnee wegblasen, ohne eine Gefahr für die in der Ruine Eingeschlossenen heraufzubeschwören. So konnten sie besser erkennen, wie viel Erde unter der weißen Decke lag.
„Äh... ja“, sagte er stotternd. „Aber seid vorsichtig!“
Die Draeneifrau schloss die Augen, bewegte ihre langen blauen Finger und schüttelte ihr blauschwarzes Haar. Trotz der Ernsthaftigkeit der Lage starrte Anduin sie einen Moment lang an, gefangen von ihrer Schönheit und Anmut. Der junge Prinz lief rot an und konzentrierte sich auf die Magie, die die Schamanin wirkte.
Er spürte einen leichten Schlag, und ein kleiner Umriss erschien. Er war fassförmig, erfüllt von einem gleißenden Licht, und Anduin wusste sofort, dass es ein Totem war – eine Methode der Schamanen, die Elemente zu kontaktieren, sie herbeizurufen und zu kontrollieren.
Strahlende Juwelen schienen umherzuwirbeln, und verschiedene Runen, die er nicht erkennen konnte, bewegten sich langsam im Kreis. Einen Augenblick später bildete sich ein kleiner Staubteufel, blauweiß und wirbelnd. Er wurde größer, als die Schamanin zu singen begann, und mit einer Bewegung ihrer Hand ließ sie ihn frei. Doch er bewegte sich nicht. Die Draenei öffnete die Augen. Sie war verwirrt und sagte etwas in einer Sprache, die Anduin nicht verstand. Der kleine Elementar, den sie gerufen hatte, gehorchte ihr jedoch noch immer nicht.