Die Verwirrung auf ihrem Gesicht schien sich in Furcht zu verwandeln. Sie sprach erneut, wobei ihre Stimme einen zunehmend flehenden Tonfall annahm, und schließlich bewegte das Totem sich vorwärts, wirbelte umher und blies den Schnee fort, so dass die Zuschauer einige Schritte zurücktreten mussten. Einige Augenblicke später war es vollbracht. Der Schnee war fort, und die grauen Steine, die einst das Dach der Brauerei gewesen waren, lagen vor ihnen. Der Elementar wirbelte auf der Stelle, immer schneller und schneller, bis er schließlich wieder verschwand. Aus dem Augenwinkel heraus sah Anduin, wie die junge Draenei eine zitternde Hand auf ihr Gesicht legte.
Die Menge strömte wieder vor, begierig, den Eingeschlossenen zu helfen. Anduin war unter ihnen.
„Wartet, wartet!“, brüllte Rohan. „Ruhe!“ Jeder gehorchte und starrte den Hohepriester an, der die Augen schloss und lauschte. Anduin hörte es nach einem Moment: ein schwaches Klopfen und Klirren. Jemand dort drinnen war noch am Leben. Nun erklang auch das Geräusch gedämpfter Stimmen, doch es war zu schwach, um es verstehen zu können.
„Verschwendet die Luft nicht!“, rief Rohan mit seiner tiefen Stimme. „Wir können euch hören und kommen zu euch!“
Die Leute gruben mit den Händen. Manche brachten Werkzeuge mit, um zu helfen. Wenig überraschend für Anduin, war Aerin in vorderster Reihe dabei, sich durch den Schutt zu wühlen. Ihre Arme bebten nach einiger Zeit vor Ermüdung, aber ihre Entschlossenheit war stärker als die Erschöpfung. Stein für Stein wurde der Schutt abgetragen, und einer nach dem anderen kamen staubige, verwundete Körper zum Vorschein. Rohan versuchte auch diejenigen zu heilen, die er nicht berühren konnte. Er konzentrierte sich, sein Blick war scharf und seine Bewegungen so schnell, dass sie sein Alter Lügen straften. Anduin spürte, wie Tränen in seine Augen traten, Tränen der Freude und Dankbarkeit für diesen Zwerg und die Segnungen des Lichts, als immer weitere Opfer des Erdbebens lebend und wohlbehalten geborgen wurden.
„Wie viele Stockwerke noch?“, fragte Anduin. Er machte einen Moment Pause, um sich die Stirn abzuwischen. Es war kalt, aber von der harten Arbeit schwitzte er heftig.
„Drei“, sagte ein Zwerg neben ihm.
„Nein, v-vier“, korrigierte ihn ein anderer. Es war Beim, der Brauereibesitzer, der ganz in der Nähe saß. Er hatte eine Decke über die Schultern geworfen und umfasste mit beiden Händen eine Tasse dampfenden Tees. Er zitterte, als er sprach. „Es gibt Räume tief u-unten für die Gäste, die über Nacht bleiben. Wir hatten aber heute keine Gäste, und ich g-glaube, dass niemand dort unten war.“
„Dank sei dem Licht für kleine Wunder“, murmelte Rohan. ..Drei Etagen, um die wir uns noch kümmern müssen.“
„Och, das ist keine so große Aufgabe“, spöttelte Aerin, obwohl die Müdigkeit auf ihrem Gesicht sie Lügen strafte. „Je schneller wir es wiederaufbauen, desto eher können wir wieder die Krüge mit dem guten alten Donnerbräu erheben!“
Beifall brandete auf, und zum ersten Mal, seit das Beben eingesetzt hatte, sah Anduin ein Lächeln auf einigen Gesichtern. Es lenkte ihn zwar nicht von der Notwendigkeit ab, sich um die Verwundeten zu kümmern, aber es löste die Spannung ein wenig, und die Arbeit ging leichter von der Hand.
Das, was einmal der erste Stock des Gebäudes gewesen war, war jetzt von den Trümmern, den Verletzten und, so schlimm es auch war, von einigen Leichen befreit. Wieder klopfte jemand rhythmisch, und wieder erleichterte dieses Geräusch die Leute. Mehrere Gnome waren die Ersten, die sich freiwillig durch einen kleinen Durchbruch in die Reste des nächsten Stockwerks zwängten. Sie hatten sich Seile um die Hüften gebunden, an denen sie zogen, um den oben Gebliebenen mitzuteilen, wie viele Überlebende es gab: drei. Das Loch wurde rasch erweitert, und noch während die anderen es freiräumten, sprangen Aerin und ein anderer Zwerg hinein.
Die Hoffnung war groß, und die Rettungsmaßnahmen verliefen reibungslos. Immer mehr Leute kamen, um ihre Hilfe anzubieten. Nahrung, heiße Getränke und Decken wurden herumgereicht. Schließlich blickte Anduin auf den noch immer schwebenden Rohan, der ihn bemerkte und ihm zunickte.
„Keine Angst, Junge, wir werden alles wiederaufbauen. Wir Zwerge sind hart im Nehmen, und das sind unsere Freunde, die Gnome, auch. Und glaub mir, die Brauerei wird das Erste sein, das wiederaufgebaut wird!“
Anduin lachte mit all den anderen und ging frohgemut zurück an die Arbeit. Es hatte wieder zu schneien begonnen, was nicht gerade hilfreich war. Er war durchnässt und fror, aber seine Arbeit half ihm, das auszublenden. Seine Finger waren zerkratzt und blutig. Er hätte Rohan bitten können, ihn mit einem schnellen Gebet zu heilen, doch er wusste, dass andere sich in weitaus schlimmerem Zustand befanden als er. Seine Finger würden sich schon wieder erholen. Die Verletzungen, die andere erlitten hatten, waren schwieriger zu...
Unvermittelt setzte ein weiteres Nachbeben ein. Anduin hatte kaum Zeit, um beiseitezuspringen, als sich der Boden unter ihm hob. Er landete hart auf dem Rücken, denn der Wind hatte ihn umgeweht, und er schnappte wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft. Schmerzhaft prasselten kleine Felsstücke auf ihn herab. Die Erde beendete schließlich ihr wütendes Beben, und zum gefühlten tausendsten Mal an diesem Tag stand Anduin auf, wischte sich das Blut aus den Augen und blickte zur Brauerei hinüber. Einen Augenblick lang weigerte er sich zu glauben, was er sah.
Es gab keine Brauerei mehr. Nichts mehr, nicht einmal die Ruine, die das vorhergehende Nachbeben zurückgelassen hatte. Nur ein schreckliches Loch klaffte im Boden. Staub stieg auf und vermischte sich mit dem friedlich fallenden Schnee.
Aerin. Rohan senkte sich herab und berührte den Stein, hielt sein Ohr daran und lauschte. Nach einigen Sekunden klopfte er erneut. Dann seufzte er, trat zurück und schüttelte langsam den Kopf.
Etwas in Anduin machte Klick.
„Nein!“, schrie er und stürmte vorwärts. Die Angst gab ihm neue Kraft. Er zwang seine kalten und steifen Finger, ihm zu gehorchen, als sie in den großen Steinhaufen griffen und einen Felsblock beiseiterollten, um sofort nach dem nächsten zu greifen. „Aerin!“, schrie er, und seine Stimme klang rau. „Aerin, halt aus, wir holen dich da raus!“
„Junge“, sagte eine freundliche Stimme.
In dem Tonfall schwang etwas mit, das er nicht anerkennen wollte. Er ignorierte Rohans Stimme und machte weiter. Er atmete hastig und flach. „Aerin, halt aus! Wir k-kommen!“
„Junge“, erklang Rohans Stimme erneut, diesmal beharrlicher. Anduin spürte eine Hand auf seiner Schulter und schüttelte sie ärgerlich ab. Aus verschwommenen Augen sah er den Priester an, sah die Anteilnahme und die Trauer auf dem alten Gesicht und wollte es nicht wahrhaben. Er blickte sich zu den Helfern um, die reglos dastanden. Einigen liefen Tränen über das Gesicht. Sie alle schauten fassungslos und schockiert drein.
„Niemand klopft“, wiederholte Rohan unerbittlich. „Es... ist vorbei. Niemand hätte das überleben können. Kommt mit, Junge. Ihr habt getan, was Ihr konntet, und noch viel mehr.“
„Nein!“, schrie Anduin, schlug mit den Armen um sich und verpasste Rohan nur knapp. „Das wisst Ihr nicht! Wir können nicht aufgeben! Sie antworten nicht, weil sie verwundet sind, vielleicht ohnmächtig. Wir müssen uns beeilen... müssen sie da rausholen... müssen sie da rausholen...“
Rohan stand stumm neben ihm und machte keinen weiteren Versuch, den jungen Menschenprinzen aufzuhalten. Anduins Tränen strömten über sein Gesicht. Stein um Stein bewegte er, bis seine schlanken Schultern vor glühendem Schmerz zu schreien schienen, seine Hände überall bluteten und taub wurden und sich auf den schneebedeckten Steinen verkrampften. Verzweifelt streckte Anduin eine Hand aus. Er versuchte, seine Freundin zu finden, doch die lag unter dem undurchdringlichen Stein eingeschlossen, den die Erde unbarmherzig hatte herniederkrachen lassen.