Anduin spürte eine wohlige Wärme durch seinen Körper strömen. Leise sagte Rohan: „Ihr seid ein guter Junge, Anduin Liane Wrynn. Ihr habt ein gutes Herz. Und wenn es bricht, wird es wieder heilen.“
Als der Zwerg sich zurückzog, erkannte Anduin, dass er keine Magie benutzt hatte. Aber dennoch fühlte er sich besser. Heilen, so schien es, konnte auf vielerlei Arten erfolgen.
Als er in sein Zimmer zurückkam, fand er Wyll vor, der mit einer Botschaft von Magni auf ihn wartete. Er bat Anduin darum, in seine Gemächer zu kommen. Der Prinz war verwirrt, machte sich jedoch augenblicklich auf den Weg.
Magni wartete bereits auf ihn. Der Raum, in dem er Anduin empfing, war überraschend klein, gemütlich und sehr zwergenmäßig – ganz anders als die großen, luftigen Räume der Menschen. Eine Kohlenpfanne glomm fröhlich vor sich hin, und der Tisch war reich gedeckt mit einfachen, aber herzhaften Speisen. Anduins Magen knurrte hörbar, und ihm wurde bewusst, dass er schon seit Stunden nichts mehr gegessen hatte. Seit Aerins Tod hatte er keinen großen Appetit gehabt. Doch als er jetzt das geröstete Fleisch, die Früchte, das Brot und den Käse erblickte, schien sein Hunger mit aller Kraft zurückzukehren. Das Leben ging offensichtlich weiter. Sein Körper hatte Bedürfnisse, die befriedigt werden mussten, auch wenn, wie Rohan es genannt hatte, das Herz gebrochen war.
„Komm herein, Junge“, empfing Magni ihn. „Nimm dir einen Stuhl und greif zu.“ Magnis Teller war bereits mit allen möglichen Leckereien vollgepackt. Anduin tat, wie ihm geheißen und genoss das gegrillte Lamm, den Dalarankäse und die Trauben.
„Ich wollte vor dem Ritual morgen ein paar Worte mit dir wechseln“, sagte Magni, griff nach seinem Krug und nahm einen großen Schluck Bier. „Nach dem Hauptbeben hatte ich ein kurzes Gespräch mit Aerin.“
Der Bissen blieb Anduin im Hals stecken. Er griff nach seinem Glas mit Saft, um das plötzlich völlig geschmacklose Essen herunterzuspülen.
„Sie sagte, sie hätte nie jemanden erlebt, der sich mehr angestrengt hat, und sie hat schon so manchen Krieger ausgebildet. Aber sie sagte auch, dass Waffen dir nicht gerade liegen. Dir fehlt das richtige Gefühl dafür.“
Der Menschenprinz spürte, wie sein Gesicht heiß wurde. Hatte er Aerin so sehr enttäuscht?
„Und da sie ein schlaues Mädchen ist... war..., erkannte Aerin einen geborenen Krieger, wenn sie einen sah. Und ebenso jemanden, der nicht dazu geboren war.“
Der König biss in einen saftigen Apfel, kaute und beobachtete Anduins Reaktion. Der Junge legte das Messer und die Gabel nieder und wartete darauf zu hören, was Magni zu sagen hatte. Ohne Zweifel etwas Nettes, aber Geringschätziges, etwas, das so klang, als hätte Anduin ihn nicht enttäuscht.
„Ich habe auch mit Rohan gesprochen“, fuhr Magni fort. „Wenn man seine schrecklichen Witze erträgt, wird man gewahr, dass in dem Kerl viel Weisheit steckt. Er konnte mir gar nicht genug von dir erzählen und davon, wie du dich nach jedem Treffen mit ihm verbessert hast. Wie du dich verpflichtet fühltest, den Verletzten zu helfen. Wie lange du über den Punkt hinaus gearbeitet hast, an dem du vor Erschöpfung hättest aufhören sollen.“ Er nahm einen weiteren langen Zug aus seinem Krug, dann setzte er ihn ab und wandte sich wieder Anduin zu. „Junge, hast du je darüber nachgedacht, dass du nicht für das Leben als Krieger geschaffen bist und es etwas anderes gibt, das du tun solltest?“
Anduin starrte auf seinen Teller. Da er von Aerin erfahren hatte, wie sehr Magni sich einen Sohn gewünscht hatte und keine Tochter, war er sich nicht sicher, wie der Zwergenkönig die Meinung seines Vaters zu dieser Sache aufnehmen würde. Schließlich sagte er ehrlich und offen: „Mein Vater will, dass ich ein Krieger werde. Ich habe stets gewusst, dass er sich das in seinem Herzen wünscht.“
Magni legte eine Hand auf Anduins Schulter. „Ach, das ist vielleicht sein Wunsch, weil er selbst ein Krieger ist. Aber dein Vater ist ein guter Mann. Letztlich will er nur, dass du das Richtige für dich und das Königreich tust. Es ist keine Schande zu heilen, Junge, das Licht zu lieben, die Leute zu begeistern und ihnen Hoffnung zu geben. Nichts davon ist falsch. Das ist für dein Königreich ebenso wichtig wie das Kämpfen.“
Anduin spürte einen Schauder, der keineswegs unangenehm war. Ganz im Gegenteil, es war beinahe ein Aufleuchten – ein Aufleuchten der Erkenntnis. Es hinterließ eine merkwürdige Ruhe und Zufriedenheit. Ein Priester sollte er sein, jemand, der mit dem Licht arbeitete, der heilte, nicht verletzte, jemand, der andere begeisterte, indem er ihnen Klarheit schenkte und sie dazu brachte, ihr Bestes zu geben, statt düstere Gefühle in ihnen wachzurufen. Er dachte über den Frieden nach, der ihn stets umgab, wenn er eine Kathedrale oder das Mystikerviertel in Eisenschmiede besuchte. Das Verlangen nach diesem Frieden zehrte an seiner Seele. Es fühlte sich beinahe an wie eine Heimkehr, als er den Zwergenkönig so sprechen hörte. Anduin sah Magni an, und sein Blick suchte den des mächtigen Kriegers und großen Königs.
„Glaubt... glaubt Ihr das wirklich?“
„Aye, das tue ich. Und solange wir einen anderen Kampflehrer für dich suchen, wäre ich sehr erfreut, wenn du in aller Ruhe mit Hohepriester Rohan sprichst.“
Anduin wollte keinen anderen Kampflehrer. Er wollte Aerin, fröhlich und pragmatisch und geradeheraus. Aber er nickte. „Das werde ich, Sire.“
„Gut!“ Sie beendeten ihr Mahl und sprachen noch ein wenig miteinander. Als die letzte Traube in Anduins Mund verschwunden und der letzte Tropfen Bier von Magni getrunken worden war, klopfte der Zwerg auf seinen Bauch und lächelte den Menschenprinzen an. „Nun denn, wir sollten zu Bett gehen. Doch vorher habe ich noch etwas für dich.“
Er erhob sich von seinem Stuhl und ging zu einer alten Kiste hinüber. Anduin folgte ihm neugierig. Der Deckel knarrte protestierend, als Magni ihn öffnete. In dem Behältnis lagen mehrere mit Stoff bedeckte Gegenstände, deren Umrisse Anduin zu der Vermutung veranlassten, es könne sich um Waffen handeln. Magni nahm einen von ihnen und hob ihn heraus. Sorgfältig packte er ihn aus.
Es war tatsächlich eine Waffe, ein Stab. Er leuchtete wie der helle Tag, obwohl er schon sehr alt sein musste. Der Knauf war silbern und mit sich überkreuzenden Bändern aus Gold bestückt, in die Runen eingraviert waren. Kleine Edelsteine funkelten hier Lind dort. Es war ein eleganter Stab von großer Schönheit und Macht.
„Dies“, sagte Magni belehrend, „ist Furchtbrecher. Die Waffe ist bereits mehrere Hundert Jahre alt. Dieser Stab wurde durch die Bronzebartlinie weitervererbt. Er hat schon Schlachten in der Scherbenwelt und hier in Azeroth erlebt, er hat Blut geschmeckt, und in manchen Händen, so ist es überliefert, hat er auch schon Blutungen gestillt. Hier, nimm ihn. Halte ihn in der Hand. Sehen wir, ob der Stab dich mag.“
Mehr als nur ein wenig eingeschüchtert – die Waffe war groß für jemanden, der so schmächtig gebaut war wie er – streckte Anduin eine Hand aus und griff den Schaft des Stabes. Sofort spürte er eine kühle Ruhe, die von der Waffe in seine Hand überging. Von dort aus breitete sie sich über seinen ganzen Körper aus. Er atmete tief ein und ließ den Atem wieder entweichen. Dabei spürte er, dass sein Körper – der schon so lange physisch und emotional angespannt war – sich deutlich entspannte. Die Unsicherheit und die Sorge waren nicht verschwunden, doch wurden sie durch die Berührung Furchtbrechers zurückgedrängt.
Als er den Mund öffnete, um Magni seine Gefühle kundzutun, hätte er schwören können, dass die Waffe leicht glühte.
„Wie ich vermutet hatte“, sagte Magni. „Er mag dich.“
„Er... lebt?“
„Nein, nein, mein Junge, aber du weißt so gut wie ich, so gut wie jedermann, der eine Waffe führt, dass sie ihre Vorlieben und Abneigungen haben, genauso wie wir auch. Zuweilen sind sie pinge lig. Ich dachte mir, dass du und Furchtbrecher gut zusammenpasst. Er gehört dir.“