Aggra war eine Schamanin, aber so gesund und stark wie die meisten Krieger. Aus diesem Grund war sie nur leicht außer Atem, als sie eintrat und vor der Großmutter mit respektvoll gesenktem Kopf auf die Knie fiel.
„Der Wind bat mich zu kommen, Großmutter. Was gibt es?“
Geyah lächelte und klopfte auf die abgetragene Decke. Aggra setzte sich neben sie. Geyah berührte das Gesicht der Orcfrau sanft. „So schnell! Hat der Wind dir Flügel verliehen, hm?“
Aggra lachte und genoss die Berührung der knorrigen Hand. „Nein, aber die Wassergeister ließen mich über den See laufen.“
Geyah lachte. „Das war nett von ihnen. Jetzt aber zu der Nachricht, die ich gerade von meinem Enkel erhalten habe... Er will nach Nagrand kommen und lernen, was ich ihn lehren kann.“
Aggra blinzelte. „Er... Was? Go’el?“
„Ja, Go’el.“
Aggra runzelte die Stirn. „Trägt er noch immer den verhassten Sklavennamen?“
„Ja“, sagte Geyah, unbeeindruckt von Aggras scheinbarer Schroffheit. Aggra wusste, dass Geyah schon vor Langem erkannt hatte, dass es leichter war, die Elemente um Hilfe zu bitten, als Aggras scharfe Zunge zu zügeln. „Das ist allein seine Entscheidung. Vielleicht kannst du ihn ja fragen, warum er das tut, wenn er hier ist.“
„Vielleicht werde ich das tatsächlich“, stimmte Aggra bereitwillig zu. Niemals zuvor hatte sie den berühmten Thrall getroffen. Bei seinem letzten Besuch war sie nicht in Nagrand gewesen. Sie wusste nur das über ihn, was andere ihr erzählt hatten. Jetzt, so schien es, konnte sie sich selbst ein Bild machen. „Ich hätte nicht gedacht, dass er jemals zurückkehrt.“
„Ich auch nicht, außer wenn ich Abschied nehme und zu den Ahnen gehe“, sagte Geyah. „Er hat mich um Hilfe gebeten.“
„Hilfe? Wobei braucht der ach so mächtige Thrall denn Hilfe?“
„Bei der Heilung der Welt.“
Aggra verstummte.
„Er schreibt mir in diesem Brief, dass die Elemente in Azeroth erschüttert sind und er meine Weisheit sucht“, fuhr Geyah fort. „Er sagt, wenn jemand wusste, wie man mit einer Welt in Aufruhr umgeht, dann sei ich das.“
„Hmpf“, schnaubte Aggra. Sie war wegen ihres vorschnellen Kommentars auf sich selbst wütend, wollte das jedoch nicht zeigen. „Dieser grüne Kerl ist doch erstaunlich klug, zumindest für jemanden mit einer menschlichen Ader.“
Geyah lachte, es klang wie ein fröhliches Krächzen. „Ich freue mich darauf, wenn ihr beide aufeinandertrefft“, sagte sie. „Doch er hat nicht unbedingt völlig recht.“
„Was meinst du, Großmutter? Du verfügst über mehr Weisheit als alle anderen Orcs zusammen. Du hast so viel mehr erlebt.“
Geyah legte eine Hand auf den weichen, braunen Arm des Mädchens. „Ich habe mehr gesehen, das stimmt. Und ich weiß viel, auch das stimmt. Doch es gibt jemanden, der die Dinge besser verstehen könnte als ich.“
Aggra neigte den Kopf und schaute verwirrt drein. „Wer soll das sein?“
„Du, mein Kind.“
Aggra riss die braunen Augen weit auf. „Ich? Oh nein. Ich weiß etwas, aber...“
„Niemals habe ich eine derart talentierte Schamanin wie dich erlebt“, unterbrach Geyah ihre Enkelin. „Alle Elemente sangen Schlaflieder für dich, Aggra. Vor langer Zeit erwählten sie dich. Ich bin stolz, dass ich dich unterrichten durfte, aber wenn du mich nicht gehabt hättest, hätte dir ein anderer ebenso viel beigebracht, wie ich es tat. Wenn es an der Zeit ist, zu den Ahnen zu gehen, werde ich das voller Zufriedenheit tun, denn ich weiß, dass du hier bist, um meinen Platz einzunehmen.“
Aggra blinzelte nervös. „Möge dieser Tag noch viele Jahre in der Zukunft liegen“, sagte sie. „Ich bin mir sicher, dass du mir und den anderen noch viel beibringen kannst. Auch deinem Enkel mit dem Sklavennamen.“
„Eigentlich“, überlegte Geyah mit einem Hauch von Bosheit in den Augen, „dachte ich daran, dir den größten Teil des Unterrichts zu überlassen. Und das aus keinem anderen Grund als dem, dass ich viel Spaß dabei haben werde zuzusehen, wie ihr beide miteinander auskommt.“
Aggra konnte ihren Gesichtsausdruck nicht sehen, doch so, wie Geyah den Kopf zurückwarf und lachte, war er von komischer Bestürzung.
Thrall hatte vergessen, wie schön Nagrand war.
Der Sonnenuntergang stand kurz bevor, und es war, als habe der Himmel sich entschlossen, wie ein exotischer Vogel stolz seine Federn zu zeigen, um ihn zu beeindrucken. In allen Schattierungen von Blau und Violett lag die Luft über rosa gefärbten Wolken, die wie Zuckerwatte aussahen. Darunter war die ebenfalls schöne Erde ausgebreitet. Das Gras war dicht wie ein Teppich und von sattem Grün, und in der Ferne konnte Thrall einige große Tiere ausmachen. Er hörte die Geräusche des dahinplätschernden Wassers, den Ruf der Vögel, die sich für die Nacht bereit machten, und spürte ein unerwartetes Ziehen in seinem Herzen.
Das erlebten viele hier auf Draenor, wie man ihm berichtet hatte. Woanders, das wusste Thrall, war das Land verwüstet, trostlos, von Narben bedeckt. Nicht so hier, nicht in Nagrand. Als er den Anblick des Sonnenuntergangs in sich aufnahm, fragte er sich, ob vielleicht auch Durotar dazu gebracht werden konnte, derart zu erblühen... wenn das Brachland und Desolace eines Tages ihre Unheil kündenden Namen nicht mehr verdienten.
„Loktar“, erklang eine Stimme.
Thrall hatte darum gebeten, kein Fest zu seiner Ankunft zu veranstalten. Er war hierhergekommen, um zu lernen, nicht, um gefeiert zu werden. Seine Zeit war zu knapp bemessen, als dass er sie mit solchen Nebensächlichkeiten hätte vergeuden können. Deshalb war er nicht überrascht und sogar erfreut, als er sich umblickte und feststellte, dass nur ein einzelner weiblicher Orc ihn erwartete.
Sie war jung, vielleicht noch ein wenig jünger als er, und trug ein Kleiderbündel auf den starken braunen Armen. Ihr leuchtend rotbraunes Haar fiel locker auf eine unordentliche, beinahe schon wilde Art über ihre Schultern, und sie trug einen ledernen Kilt und eine Weste. Sie hätte schön wirken können in ihrer eigensinnigen, aufrechten Art, wären da nicht der finstere, missbilligende Blick und die nach unten gezogenen Mundwinkel gewesen.
„Du bist Thrall, Sohn von Durotan“, sagte sie ohne jede Einleitung.
„Der bin ich“, antwortete er.
„Ein schmutziger Name. Hier wirst du Go’el genannt.“
Ihre Direktheit erschütterte ihn. Seit sehr vielen Jahren war er nicht mehr herumkommandiert worden, nicht, seitdem er sich des Frostwolfklans und Orgrim Schicksalshammers eines Abends vor langer Zeit als würdig erwiesen hatte.
„Go’el mag der Name gewesen sein, den meine Eltern für mich ausgesucht haben, aber das Schicksal hat anders entschieden. Ich bevorzuge Thrall.“
Sie wandte den Kopf ab und spie verächtlich aus. „Ein Menschenwort, das ‚Sklave‘ bedeutet. Es eignet sich nicht für einen Orc, schon gar nicht für einen, der andere Orcs anführen will – selbst diejenigen, die nicht in seiner Welt leben.“
Thralls Nüstern bebten angesichts der Beleidigung, und seine Stimme nahm einen scharfen Klang an. „Ich bin der Kriegshäuptling der Horde, ein Schamane, und ich habe dafür gesorgt, dass die Allianz meinen Namen fürchtet, der einst Sklave bedeutete. Für sie steht er für den Ruhm und die Macht der Horde. Ich möchte dich bitten, den Namen zu benutzen, den ich bevorzuge.“
Sie zuckte mit den Achseln. „Du kannst ihn behalten, aber wir werden dich nicht so nennen. Wenn ich mich nicht irre, bist du nicht als Kriegshäuptling der Horde hier, um uns herumzukommandieren, sondern als Schamane, um Weisheit zu finden.“
„Das stimmt.“ Thrall unterdrückte den gerechten Zorn, der in ihm brodelte. Er hatte Garrosh für solche Dinge gescholten und würde nun seinen eigenen Rat befolgen und ruhig bleiben. „Ich bin hierhergekommen, um von meiner Großmutter zu lernen, Großmutter Geyah. Würdest du mich jetzt bitte zu ihr bringen?“