„Es war seine eigene Klugheit, die ihn an den Stein erinnert hat“, entgegnete Jaina. „Ich gab ihm nur das Werkzeug an die Hand.“
„Anduin... hat diese Zwergenhexe dir etwas angetan?“ Varians dunkle Augenbrauen zogen sich zusammen. „Wenn ja, dann werde ich...“
„Nein, nein“, beeilte sich Anduin seinem Vater zu versichern. „Ich glaube auch nicht, dass sie das getan hätte. Dazu war ich ihr zu wichtig. Lass mich dir erzählen, was geschehen ist.“
Schnell und präzise berichtete er seinem Vater von den Geschehnissen in Eisenschmiede. Es waren nahezu dieselben Worte, die er bei seinem Bericht für Baine und Jaina verwendet hatte. Nicht zum ersten Mal bewunderte Jaina den kühlen Kopf auf den Schultern des jungen Mannes, vor allem, da er – und auch sie – mit sehr wenig Schlaf auskamen, und das unter den gegebenen Umständen.
„Du siehst also, ihr Anspruch ist legitim“, schloss Anduin.
„Nicht jedoch der auf den Kaiserthron “, gab Varian zurück.
„Nun, das stimmt, aber sie ist die Prinzessin von Eisenschmiede und wird Königin, sobald die offizielle Krönung stattgefunden hat. Sie müsste... ihre Untertanen gar nicht einsperren.“
„Nein“, antwortete der König, „das müsste sie tatsächlich nicht.“ Sein Blick huschte zu Jaina. „Jaina, ich werde nicht bekannt geben, dass Anduin erfolgreich entkommen ist. Soll Moira ruhig noch eine Weile schmoren. Aus diesem Grund muss ich dich um einen Gefallen bitten.“
„Natürlich kann Anduin hierbleiben“, antwortete Jaina, noch bevor Varian eine entsprechende Frage hatte stellen können. „Niemand weiß, dass er hier ist, und die wenigen, die ihn bei mir gesehen haben, sind absolut vertrauenswürdig. Wann immer du es wünschst, kann er nach Hause zurückkehren.“
Anduin nickte. Er hatte diese Entscheidung erwartet, aber Jaina bemerkte dennoch seine Enttäuschung. Sie konnte es ihm nicht verübeln. Jeder andere in seiner Position hätte nach Hause zurückkehren wollen, um mit alldem nichts mehr zu tun haben zu müssen.
„Danke“, sagte Varian. „Natürlich werde ich weiterhin öffentlich so verwirrt tun, wie Moira es erwartet.“
„Ich auch. Wir lassen sie denken, dass sie ihren Putsch erfolgreich verbergen konnte. Und in der Zwischenzeit...“
„Keine Angst.“ Varian lächelte kalt. „Ich habe einen Plan.“
Mit diesen Worten verschwand er. Jaina blinzelte überrascht.
„Er schien wütend zu sein“, sagte Anduin ruhig.
„Nun, das ist er ganz sicher. Auch ich war wütend, als ich von der Gefahr hörte, in der du dich befandest. Varian ist schließlich dein Vater.“
Anduin seufzte. „Ich wünschte, ich könnte mehr tun, um dem Volk von Eisenschmiede oder den Tauren zu helfen.“
Jaina widerstand dem Drang, ihm durchs Haar zu fahren. Anduin war kein Kind mehr, und obwohl er sicherlich zu höflich war, um sich dagegen zu sträuben, würde er diese Geste wohl nicht sehr schätzen. Sie begnügte sich damit, ihm zuversichtlich zuzulächeln.
„Anduin, ich bin mir sicher, du wirst einen Weg finden.“
Anduin war gleichermaßen überrascht wie erfreut, als er erfuhr, dass Baine Bluthuf um seine Anwesenheit bei dem nächsten Treffen mit Jaina gebeten hatte. Obwohl der Wohnraum, in dem sie am vergangenen Abend miteinander gesprochen hatten, ein merkwürdiger Ort für solch bedeutsame Verhandlungen war, hatte Anduin nichts dagegen, als Jaina ihn erneut als Versammlungsort vorschlug. Auch Baine hatte keinerlei Einwände, wenn es auch offensichtlich war, dass der Raum für seinen massigen Körper viel zu klein war. Anduin fragte sich, ob auch Baine die Behaglichkeit des Raums gespürt hatte, in dem sich Jaina an kalten, regnerischen Tagen mit ihren Freunden traf, um die Kälte mit munterer Konversation, heißem Tee und wohlschmeckenden Keksen vergessen zu machen. Vielleicht hatte sich etwas von der guten Laune hier erhalten und wurde von Baine wahrgenommen.
Es ist eine merkwürdige Art, Verhandlungen zu führen, dachte Anduin und erinnerte sich an das Treffen in Theramore, das nun schon so lange zurücklag. Hier gab es keine förmlichen Erklärungen, keine Waffen, die man ablegen musste, keine Wachen. Nur drei Leute.
Diese Vorstellung gefiel ihm.
Baine und Jaina hatten bereits Platz genommen, als Anduin zu ihnen stieß. Auf ihn wirkte der Taure ein wenig ruhiger, jedoch auch trauriger als bei ihrem Treffen am Tag zuvor. Anduin grüßte Baine höflich und herzlich und verneigte sich vor ihm wie vor einem Gleichgestellten. Baine erwies ihm ebenfalls seinen Respekt, indem er seine Brust und seine Stirn berührte. Anduin lächelte. Es war ein unbeholfenes Lächeln, doch als er Baine ansah, gewann es an Sicherheit.
Baine, Jaina und Anduin saßen wieder auf dem Boden. Anduins Rücken war dem Feuer zugewandt, und er genoss die behagliche Wärme. Jaina brachte ein Tablett mit Tee herbei und stellte es in ihre Mitte. Dieses Mal, fiel Anduin auf, hielt sie einen übergroßen Becher für ihren Gast bereit.
Baine bemerkte das ebenfalls und machte ein sanftes, schnaubendes Geräusch. „Danke, Lady Jaina“, sagte er. „Ich sehe, die Details entgehen Euch nicht. Thrall tat wohl daran, Euch zu vertrauen, denke ich.“
„Danke, Baine“, gab Jaina zurück. „Thralls Vertrauen bedeutet mir sehr viel. Ich würde es nie aufs Spiel setzen... oder Eures.“
Baine nahm einen Schluck aus dem Becher, der, auch wenn er außergewöhnlich groß war, in seinen Händen winzig schien. Er starrte einen Moment lang in den Becher. „Einige der Verlassenen können aus Teeblättern lesen“, sagte er. „Ist Euch diese Kunst vertraut, Lady Jaina?“
Jaina schüttelte den Kopf. „Nein, das ist sie nicht“, erwiderte sie. „Aber mir wurde gesagt, dass gebrauchte Teeblätter sich gut für den Kompost eignen.“
Es war ein schwacher Scherz, doch alle drei lachten herzlich. „Das ist ebenso gut. Ich brauche kein Orakel, das mir sagt, was mir die Zukunft bringt. Vielmehr habe ich nachgedacht und um Weisung durch die Erdenmutter gebetet. Ich habe sie gebeten, mein Herz zu leiten, das voller Schmerz und Wut ist.“
„Was sagt Euch Euer Herz?“, fragte Jaina leise.
Baine blickte sie mit seinen ruhigen braunen Augen an. „Mein Vater wurde mir durch Verrat genommen, und mein Herz schreit nach Rache für diese verabscheuungswürdige Tat.“ Seine Stimme klang fest, beinahe schon monoton, aber dennoch schreckte Anduin instinktiv zurück. Baine war niemand, dessen Rache er herausfordern wollte.
„Mein Herz sagt: Sie nahmen ihn dir, also nimm ihnen das Leben. Nimm den Grimmtotems das Leben, die mitten in der Nacht in die friedliche Stadt ihres eigenen Volkes eingedrungen sind und ihre Opfer erstickten oder erstachen. Opfer, die zu fest schliefen oder zu überrascht waren, um sich zur Wehr setzen zu können. Nimm ihrer Matriarchin das Leben, die Garroshs Klinge vergiftete, statt sie mit heiligem Öl zu salben. Nimm dem arroganten Narren das Leben, der es gewagt hat, gegen meinen Vater anzutreten, und nur gewinnen konnte, indem er sich erniedrigte...“
Baine erhob die Stimme, und die Ruhe in seinen Augen wich der zunehmenden Wut. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, die so groß waren wie Anduins Kopf, und sein Schwanz peitschte unruhig hin und her. Abrupt unterbrach er sich mitten im Satz und atmete tief durch.
„Wie Ihr seht, ist mein Herz jetzt gerade nicht sehr weise. Aber in einem Punkt gebe ich ihm recht: Ich muss das Land meines Volkes zurückerobern – Donnerfels, das Dorf der Bluthufe, den Sonnenfels, Camp Mojache und alle anderen Dörfer und Außenposten, die von den Grimmtotems angegriffen wurden und wo unschuldiges Blut vergossen wurde.“
Anduin merkte, dass er zustimmend nickte. Er war aus vielen Gründen vollkommen einer Meinung mit Baine. Die Grimmtotems sollten für ihre Gewalt und ihre Grausamkeit nicht auch noch belohnt werden. Baine würde ein besserer Anführer sein als Magatha. Zudem bestand nur mit dem jungen Tauren als Anführer seines Volkes Hoffnung auf einen Friedensschluss mit der Allianz.
„Ich glaube auch, dass das richtig ist“, sagte Jaina, aber Anduin bemerkte die Zurückhaltung und die Vorsicht in ihrer Stimme. Er wusste, dass sie sich fragte, was genau Baine vorhatte und worin ihr Beitrag bestehen sollte. Sie musste gewillt sein, auf ihre eigene Art zu helfen, denn sonst hätte sie Baine nicht einmal gestattet, mit ihr zu sprechen. Er schwieg und ließ Baine fortfahren.