Den Diener, der ihn in einen Nebenraum führte, ihm aus der nassen Kleidung half und ihm ein viel zu großes Hemd und eine Hose zuwarf, nahm er kaum wahr. Bevor er mitbekam, was mit ihm geschah, war er in grobes, aber warmes Tuch gehüllt und saß mit einem Becher heißen Tees in der Hand vor dem Feuer. Der Diener verschwand. Es gab noch viele andere, die seine Hilfe brauchten. Wenige Augenblicke später zitterte Anduin wie Espenlaub, und erst jetzt bemerkte er, dass ihm allmählich wieder warm wurde.
Nach einiger Zeit fühlte er sich gestärkt und wieder ausreichend bei Kräften, um den Hilfebedürftigen beistehen zu können, die in die Zitadelle strömten. Er ging in sein Zimmer, wechselte seine Kleidung und kehrte zurück, um den anderen ebenso gut zu helfen, wie ihm geholfen worden war. Er sorgte für heiße Getränke und trockene Tücher und hängte die nassen Kleidungsstücke auf Leinen, die eilig überall gespannt worden waren.
Der Regen hörte nicht auf, und das Wasser stieg immer weiter, trotz Jainas Drachenkopf, der noch immer versuchte, es aufzuhalten. Jaina kämpfte bis zur völligen Erschöpfung, erneuerte den Zauber alle paar Minuten und half den Flüchtlingen, wo sie nur konnte. Immer mehr Leute suchten Zuflucht in der Burg und saßen in den zahlreichen Räumen dicht gedrängt auf dem hölzernen Boden. Schließlich nahm Anduin an, dass sich in der Burg, in den Quartieren der Wachen und in dem Gasthof alle Bewohner Theramores versammelt hatten.
Gegen Ende des zweiten Tages gestattete Jaina sich eine Pause. Sie setzte sich hin, aß und trank etwas. Mehrfach hatte sie ihre Kleidung gewechselt, doch auch das, was sie jetzt am Leib trug, war bereits wieder klatschnass. Anduin holte ihr einen Stuhl, stellte ihn in ihrem kleinen, gemütlichen Zimmer nah ans Feuer und brachte ihr etwas heißen Tee. Jaina zitterte so stark, dass die Tasse auf der Untertasse hin- und herrutschte, während sie ihn aus blutunterlaufenen, erschöpften Augen ansah.
„Du solltest nach Hause zurückkehren. Wir wissen nicht, wann das Wasser wieder abfließt, und ich kann nicht mehr für deine Sicherheit garantieren.“
Anduin wirkte unglücklich. „Ich kann den Leuten hier helfen“, sagte er. „Ich tue nichts Unüberlegtes, Jaina, das weißt du doch.“
Sie streckte die Hand nach ihm aus, als wollte sie ihm durch sein blondes Haar fahren, schien jedoch selbst dafür zu schwach zu sein. Ihre Hand fiel schlaff auf ihren Schoß, und sie seufzte.
„Es ist ja nicht so, dass du gleich deinem Vater begegnen wirst“, murmelte sie und trank einen Schluck Tee.
„Was meinst du damit?“
Jaina erstarrte mitten in der Bewegung, die Tasse auf halbem Weg zur Untertasse, und blickte Anduin an. Sie schien verzweifelt nach einer Lüge zu suchen, doch offensichtlich war sie zu erschöpft, um auf die Schnelle etwas zu erfinden.
„Was ist mit meinem Vater? Wo ist er?“ Und dann wusste er es. Er starrte sie erschreckt an. „Er wird Eisenschmiede angreifen, oder?“
„Anduin“, begann Jaina. „Moira ist eine Tyrannin. Sie...“
„Moira? Ach komm, Tante Jaina, sag mir bitte, was er vorhat!“
Jainas Stimme zitterte vor Müdigkeit und war voller Resignation, als sie ihm seine schlimmsten Befürchtungen bestätigte.
„Varian reitet mit einer Elitetruppe nach Eisenschmiede. Sie wollen Moira töten und die Stadt befreien.“
Anduin konnte nicht glauben, was er da hörte. „Wie wollen sie in die Stadt kommen?“
„Durch den Tunnel der Tiefenbahn.“
„Man wird sie erwischen.“
Jaina rieb sich die Augen. „Anduin, wir reden über SI:7-Kämpfer. Die lassen sich nicht erwischen.“
Anduin schüttelte langsam den Kopf. „Nein, das werden sie wohl tatsächlich nicht. Du hast recht. Ich muss Theramore verlassen.“
Jaina runzelte die Stirn, und die kleine Falte auf ihrer Stirn trat wegen ihrer Erschöpfung deutlicher hervor als sonst. „Nein. Du gehst nicht nach Eisenschmiede!“
Er knurrte beinahe vor Verzweiflung. „Jaina, hör mir zu, bitte! Du warst immer vernünftig. Und jetzt musst du auch vernünftig sein. Moira hat üble Dinge getan – die Stadt abgeriegelt, unschuldige Leute ins Gefängnis gesteckt. Aber sie hat König Magni nicht getötet, und sie ist seine Tochter. Sie ist die rechtmäßige Erbin, und nach ihr wird ihr Sohn den Thron übernehmen. Einiges von dem, was sie vorhat, finde ich sogar richtig, nur versucht sie leider, es auf die falsche Art zu erreichen.“
„Anduin, sie hält die ganze Stadt – Eisenschmiede, die Hauptstadt der Zwerge – als Geisel.“
„Weil sie die Bronzebartzwerge noch nicht kennt, ihnen nicht vertraut. Jaina, in manchen Dingen ist sie ein ängstliches kleines Mädchen, das die Liebe ihres Vaters vermisst.“
„Ängstliche kleine Mädchen, die über Städte herrschen, können gefährliche Dinge tun, und sie müssen aufgehalten werden.“
„Indem sie getötet werden? Sollte man Moira nicht besser an die Hand nehmen und anleiten? Sie wünscht sich, dass die Bronzebartzwerge die Dunkeleisenzwerge als ihre Brüder annehmen, die sie ja auch sind. Sollte man sie dafür ermorden? Und möglicherweise auch ihr Kind? Hör mir zu, Jaina, bitte. Wenn Vater sie angreift, werden viele Leute sterben, und die Erbfolge der Zwerge wird unterbrochen. Statt sich zu einem Volk zusammenzufinden, werden die Zwerge in einen neuen Bürgerkrieg geführt! Ich habe versucht, meinen Vater aufzuhalten, siehst du das denn nicht? Ich wollte, dass er einsieht, dass es einen anderen Weg gibt.“
„Nein und noch mal nein! Du bist erst dreizehn Jahre alt, der Thronerbe und nur unzureichend auf deine zukünftige Aufgabe vorbereitet. Glaubst du, es wäre Sturmwind von Nutzen, wenn du getötet wirst?“ Sie atmete tief ein und dachte nach. Anduin schwieg. „In Ordnung. Wenn du das unbedingt tun willst... Du könntest recht haben... Aber dann komme ich mit. Gib mir ein paar Stunden, um die Situation hier in den Griff zu bekommen und...“
„Er ist jetzt auf dem Weg. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren, das weißt du! Ich kenne meinen Vater, und du kennst ihn ebenso gut. Was immer auch geschehen wird, es wird schnell vonstattengehen und ein böses Ende heraufbeschwören. Ich aber kann Leben retten. Lass es mich wenigstens versuchen.“
Jainas Augen füllten sich mit Tränen, und sie wandte sich ab. Anduin drängte sie nicht weiter. Er vertraute ihr und wusste, dass sie die richtige Entscheidung treffen würde.
„Ich...“
„Eines Tages werde ich König sein, und das nicht nur für eine kurze Zeit. Mein Vater wird nicht mehr da sein, und niemand weiß, wann dieser Tag kommen wird. Es könnte schon heute Nacht geschehen... Das Licht bewahre uns davor, dass es wirklich so kommt. Aber du weißt das, und ich weiß es auch. Und meinem Vater ist es ebenso bewusst. Meine Bestimmung ist es, Sturmwind zu regieren, dazu wurde ich geboren. Ich kann mich jedoch dieser Bestimmung nicht stellen, wenn ich wie ein Kind behandelt werde.“
Jaina biss sich auf die Unterlippe und schlug die Hände vors Gesicht. „Du hast recht“, sagte sie schließlich ruhig. „Du bist kein kleiner Junge mehr. Dein Vater und ich wünschten, dass du es noch wärst. Du hast schon so viel gesehen, so viel getan...“ Sie atmete tief durch. „Du passt auf, dass du nicht gefangen genommen wirst, Anduin Wrynn“, erklärte sie nun mit einer Stimme, die hart und zornig klang. Anduin erschrak, erkannte jedoch kurz darauf, dass sie nicht auf ihn wütend war, sondern weil es keine andere Lösung gab. „Du hältst deinen Vater auf und sorgst dafür, dass sich das Risiko, das du eingehst, lohnt, verstanden?“
Anduin nickte stumm. Sie packte ihn am Arm und drückte ihn so fest, als würde sie ihn das letzte Mal umarmen. Vielleicht stimmte das ja auch. Es war ein letzter Gruß an den Jungen, der er gewesen war. Er erwiderte ihre Umarmung und spürte den kalten Hauch der Angst. Stärker als die Furcht war jedoch ein Gefühl der Stille und der Ruhe, das sich im Zentrum seines Wesens ausbreitete und ihm sagte, dass er das Richtige tat.