Jaina tätschelte seine Wange. Tränen liefen ihr Gesicht hinab, als sie sich zu einem Lächeln zwang.
„Möge das Licht mit dir sein“, sagte sie, trat zurück und begann einen Zauber zu wirken, der ein Portal erschuf.
„Das ist es“, sagte Anduin. „Ich weiß es.“ Er trat durch das Portal.
Finsternis lag über der Stadt, als sie durch die Straßen schlichen, die zu dieser nächtlichen Stunde völlig leer waren. Sie gingen nach Norden, in den verrauchten Zwergendistrikt.
In Richtung der Tiefenbahn.
Die Station lag völlig verlassen da, und die Bahn war nirgendwo auszumachen. Alle paar Meter waren entlang der Gleise hell leuchtende Scheinwerfer angebracht, die der Sicherheit und dem Wohlbefinden der Fahrgäste dienten. Jetzt war die Bahn „wegen Reparaturarbeiten geschlossen“. Varian hatte befohlen, alle Lichter im Bereich von Sturmwind zu löschen. Die achtzehn anderen Männer und Frauen, die nun auf das Gleisbett sprangen und leichtfüßig und lautlos die Schienen entlangrannten, waren es gewohnt, sich in der Finsternis zu bewegen. Varian jedoch verursachte einige Geräusche und runzelte die Stirn. Er war das schwächste Glied in der Kette, da seine Ausbildung so ganz anders verlaufen war als die seiner Mitstreiter. Obwohl er ebenso tödlich sein konnte wie sie, unterschied sich seine Art des Kampfes deutlich von der ihrigen. Aus diesem Grund war er gern bereit, sich führen und belehren zu lassen. Alle neunzehn Kämpfer trugen Masken, um ihre Identität zu verbergen.
Der Anführer dieses Teils der Mission war Owynn Graddock, ein Zwerg mit dunkler Haut, schwarzem Haar und ebensolchem Bart. Mathias Shaw, der Kopf von SI:7, hatte ihn persönlich für diese Aufgabe ausgewählt. Obwohl die meisten Krieger bei diesem Einsatz Menschen waren, nahmen auch mehrere Zwerge und einige Gnome daran teil. Varian hatte darauf bestanden, sie mitzunehmen. Jeder geübte Meuchelmörder konnte diese Aufgabe übernehmen, aber Zwerge und Gnome zogen letztlich den größten Vorteil aus der Befreiung von Eisenschmiede.
Graddock hatte beinahe die gesamte Strecke des Bahntunnels ausgekundschaftet, so dass die Gruppe wusste, was ihr bevorstand.
„Die Glaswand, die das Wasser des Sees zurückhält, ist völlig in Ordnung“, fuhr Graddock fort. „Eigentlich hatte ich erwartet, dass die Dunkeleisenzwerge sie zerstört haben, denn so könnte man die Tunnel fluten und Aktionen wie die unsere verhindern. Ich glaube, Moira will die Bahn eventuell doch noch benutzen –vielleicht um Sturmwind anzugreifen. Für uns ist das ein großer Glücksfall.
Doch zurück zu dem Weg, der vor uns liegt. Ich habe einige Dunkeleisenzwerge hier herumstreichen sehen. Deshalb...“ Er schaute auf, und der Blick aus seinen ernsten braunen Augen richtete sich auf Mathias und Varian. „Hier beginnt die Schlacht.“
Rasch und leise bewegten sie sich vorwärts, bis sie den unterirdischen See erreichten, der sich hinter dem dicken Glas erstreckte. Varian widmete ihm nur einen flüchtigen Blick. Er war völlig auf die Mission konzentriert.
Ein intensiver, widerlich süßlicher Geruch erreichte Varians Nase: Pfeifentabak. Er lächelte unter seiner Maske, weil seine Feinde sich so leichtfertig verraten hatten. Sofort wurde er langsamer, ebenso wie seine Begleiter. Im gedämpften Licht sah er, wie Graddock seinen Leuten signalisierte, sich auf den Kampf vorzubereiten.
Die Leute von SI:7 benutzten verschiedene Waffen – Dolche und Dornen, die mit Gift versehen waren, und Handschuhe mit speziellen Vorrichtungen. Varian zog seine Maske so weit herunter wie möglich, damit sie ihm nicht vom Kopf rutschte, und griff nach seinen beiden Kurzschwertern. Er hätte lieber das vertraute Shalamayne mitgenommen, doch das hätte seine Identität sofort preisgegeben – etwas, das er unbedingt vermeiden wollte.
Ein weiteres Zeichen von Graddock, und sie schlichen vorsichtig vorwärts. Selbst Varian bewegte sich nun vollkommen lautlos. Er lernte dazu. Nach wenigen Metern konnte er deutlich fünf Zwerge ausmachen. Sie saßen auf ihren Decken. Bierkrüge und die Überreste eines Mahls standen in der Nähe. Varian konnte es nicht glauben: Sie spielten seelenruhig Karten.
Graddock hielt die Hand hoch und ließ sie dann einmal sinken, zweimal, dreimal.
Die Kämpfer sprangen auf.
Varian war sich nicht sicher, wie sie miteinander kommunizierten, aber es schien, dass seine Begleiter sich wortlos verständigten. Auf jeden der Zwerge stürzte sich ein schwarz gekleideter Kämpfer. Die Gegner hatten nicht einmal mehr Zeit zu einem überraschten Warnruf. Varian stürmte vor, beide Schwerter erhoben, und unterdrückte nur mit Mühe einen Kampfschrei. Doch die fünf Zwerge waren bereits tot. Einer hatte ein Messer im Auge. Das Genick eines anderen war gebrochen. Das Gesicht des dritten war als Reaktion auf ein schnell wirkendes Gift angeschwollen, und Schaum quoll ihm aus dem Mund. Ein männlicher Gnom namens Brink, glatzköpfig und für einen Vertreter seiner Rasse ausgesprochen gefährlich aussehend, und eine Menschenfrau erhoben sich und reinigten geübt ihre Waffen.
Sie näherten sich Eisenschmiede.
31
„Anduin!“ Rohans Stimme war voller Wärme und Überraschung, als er den Jungen plötzlich in der Halle der Mysterien auftauchen sah. „Wir haben gehört, dass Ihr entkommen seid. Warum um alles in der Welt seid Ihr zurückgekommen?“
Anduin trat aus dem Portal und huschte schnell in eine Ecke der Halle. Rohan folgte ihm und sprach leise und drängend.
„Moira ist wegen Euch auf dem Kriegspfad. Sie hat alles bereits zweimal durchsuchen lassen, und ihre Lakaien haben jeden Winkel von Eisenschmiede überprüft. Sie hat natürlich nichts verlauten lassen, aber jeder weiß, wonach sie sucht.“
„Ich musste zurückkommen“, sagte Anduin leise. „Mein Vater startet einen Angriff, um Eisenschmiede zu befreien, und ich muss ihn aufhalten. Er will Moira töten, da er glaubt, dass sie eine Thronräuberin ist.“
Rohans weiße Augenbrauen zogen sich zusammen. „Sie ist zwar eine lausige Königin und hat einige gute Leute ins Gefängnis geworfen, doch sie ist die rechtmäßige Erbin des Throns, und das gilt auch für den kleinen Hosenscheißer, den sie mitgebracht hat.“
„Genau“, sagte Anduin, dankbar, dass Rohan sofort verstand, worauf er hinauswollte. „Was sie tut, ist falsch. Das ist vor allem mir klar, denn sie wollte mich als Gefangenen hierbehalten und mich nie wieder gehen lassen. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass mein Vater sie ermorden darf. Es ist nicht seine Stadt, und er wird nicht mehr erreichen als einen Aufstand und einen Bürgerkrieg. Zudem ist manches von dem, was Moira sich vorgenommen hat, durchaus nicht falsch.“
„Wie habt Ihr das herausgefunden? Seid Ihr Euch sicher, dass Eure Informationen verlässlich sind?“
Anduin wollte Jaina nicht ins Spiel bringen und nickte deshalb nur. „So wie das Licht mich führt, Vater Rohan, vertraue ich diesen Informationen.“
„Nun, Ihr seid ein Prinz, kein demütiger Priester wie ich. Wenn Ihr denkt, dass es die Wahrheit ist, dann tue ich das ebenfalls. Ihr habt recht. Unsere Anführerin zu ermorden ist nicht der richtige Weg... Es gibt Leute, denen gefällt, was sie tut. Ich helfe Euch, Junge. Wie kann ich Euch von Nutzen sein?“
Anduin erkannte, dass er noch gar nicht so weit gedacht hatte. „Ahm“, begann er, „ich weiß, dass mein Vater durch den Tunnel der Tiefenbahn kommt, aber ich weiß nicht, wann er hier eintrifft. Wir sollten versuchen, ihn aufzuhalten.“
„Hm“, sagte Rohan, „wie so viele Dinge ist das leichter gesagt als getan. Ihr seid zwar noch ein Junge, aber Ihr habt nicht die Gestalt eines Zwergs. Zudem suchen die Dunkeleisenzwerge nach Euch.“
„Wir müssen eben vorsichtig sein“, sagte Anduin, „und ich muss mich ducken. Los!“
Die achtzehn SI:7-Kämpfer und der König von Sturmwind kletterten auf den Bahnsteig. Mehrere Dunkeleisenzwerge erwarteten sie bereits, wurden jedoch schnell und gnadenlos ausgeschaltet. Der Kampf hatte einige Aufmerksamkeit erregt, und eine kleine Gruppe, die vornehmlich aus Gnomen bestand, starrte die Männer und Frauen in ihren Masken und dem schwarzen Leder erstaunt an und fragte sich, ob sie Freunde oder neue Feinde waren.