Varian nickte ihr knapp zu. Die Klingen der SI:7-Kämpfer waren so schnell weggesteckt, wie sie gezogen worden waren. Moira hatte sich an die Kehle gefasst und behutsam den harmlosen Schnitt betastet. Sie zitterte sichtlich, und ihre frostige Eleganz und falsche Freundlichkeit waren verschwunden.
Varian war mit ihr fertig. Er wandte sich zu Anduin um, sah, wie sein Sohn freudig lächelte, und nickte stolz. Mit zwei Schritten war er bei ihm und drückte ihn an sich. Jetzt erst bemerkte er den Applaus. Das Klatschen wurde immer lauter und von Rufen und zustimmenden Pfiffen begleitet. Namen wurden gerufen: „Wildhammer!“, „Bronzebart!“ Und wie Anduin und Rohan gesagt hatten, auch „Dunkeleisen!“
Varian blickte zu den Hunderten Zwergen, die lächelten und ihm zujubelten. Moira stand allein, ihre Hand immer noch an der Kehle. Sie hielt den Kopf gesenkt.
„Siehst du, Vater?“, sagte Anduin und brachte mit seinen Worten Varian in die Gegenwart zurück. „Du hast genau das Richtige getan. Ich wusste es.“
Varian lächelte. „Ich brauchte jemanden, der fest daran glaubte, bevor ich es selbst konnte“, antwortete er. „Komm, Sohn. Kehren wir heim.“
Thrall und Aggra eilten zurück nach Garadar und erlebten einen enttäuschenden Empfang. Insbesondere ihre Großmutter Geyah blickte traurig und erhob sich, um Thrall zu umarmen. Ein Taure stand neben ihr, groß und muskulös. Thrall erkannte in ihm Perith Sturmhuf, und er spürte, wie die Farbe aus seinem Gesicht wich. „Etwas Schreckliches ist geschehen“, sagte Thrall. Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. „Was ist los?“
Geyah legte eine Hand auf sein Herz. „Tief in deinem Herzen weißt du, dass es richtig war, nach Nagrand zu kommen, was auch immer in deiner Abwesenheit geschehen sein mag.“
Thrall blickte Aggra an, die so bestürzt dreinschaute wie er selbst. Er zwang sich, Ruhe zu bewahren. „Perith, sprich.“
Der Taure gehorchte. Seine Stimme war ruhig und ließ seine Gefühle nur bei der Erwähnung bestimmter Namen erkennen. Er sprach von einem verräterischen Mord an unschuldigen Druiden, die sich friedlich versammelt hatten, und von einem wütenden Cairne, der Garrosh herausgefordert hatte. Von dem Tod des großen Oberhäuptlings, der sich als Giftmord herausgestellt hatte, verübt von Magatha Grimmtotem. Perith erzählte von dem Gemetzel in Donnerfels und beim Dorf der Bluthufe und dem Sonnenfels. Als er geendet hatte, hielt er eine Schriftrolle in der Hand. „Palkar, Drek’Thars Diener, schickt dir dies.“
Thrall entrollte das Pergament. Er musste sich anstrengen, damit seine Hände nicht zitterten. Als er Palkars Worte las, zitterte sein Herz. Anders als alle gedacht hatten, trafen Drek’Thars Visionen noch immer zu, auch wenn sein Geist nicht mehr ganz klar war. Die Feder hatte an mehreren Stellen getropft, als Palkar Drek’Thars letzte Warnung niedergeschrieben hatte: Das Land wird weinen, und die Welt wird auseinanderbrechen...
Die Welt wird auseinanderbrechen. So, wie es einer anderen Welt bereits widerfahren war...
Thralls Gedanken rasten, und er lehnte das Angebot, sich zu setzen, ab. Er stand wie festgenagelt da und fragte sich: War es richtig gewesen, nach Nagrand zu kommen? War das wenige Wissen, das ich hier erlangt habe, den Verlust Cairnes und den Tod von so vielen friedliebenden Tauren wert? Selbst wenn ich recht hatte: Komme ich noch rechtzeitig?
„Baine“, sagte er schließlich. „Was ist mit Baine?“
„Über ihn weiß ich nichts, Kriegshäuptling“, sagte Perith, „aber es wird angenommen, dass er am Leben ist.“
„Und Garrosh? Was hat er getan?“
„Bislang nichts. Er scheint darauf zu warten, welche Seite den Sieg davonträgt.“
Thralls Hände ballten sich zu Fäusten. Er spürte eine federleichte Berührung, blickte hinab und sah, wie Aggras Hand die seine berührte. Ohne zu wissen, warum, Öffnete er die Faust und gestattete seinen Fingern, sich mit den ihren zu vereinen. Er atmete tief ein.
„Dies...“ Seine Stimme brach, und er versuchte es erneut. „Dies sind schlimme Nachrichten. Mein Herz weint um die Toten.“ Er blickte zu Geyah. „Heute habe ich von den Elementen einiges erfahren, das mir dabei helfen kann, Azeroth zu heilen. Ich hatte gehofft, erst in einigen Tagen abreisen zu müssen, aber wie du sicherlich verstehst, muss ich sofort aufbrechen.“
„Natürlich“, antwortete Geyah. „Wir haben deine Sachen bereits gepackt.“
Einerseits war er dankbar für ihre Fürsorge, doch andererseits hatte er gehofft, noch ein wenig Zeit zu haben, um sich zu sammeln. Die kluge Geyah erkannte das sofort. „Ich bin mir sicher, du wirst noch meditieren wollen, bevor du aufbrichst“, sagte sie, und Thrall nickte ihr erleichtert zu.
Er verließ Garadar und ging zu einem kleinen Gehölz. Eine Herde wilder Talbuks beobachtete ihn wachsam, bevor die Tiere nervös mit ihren Schwänzen wedelten und ein Stück weit fortliefen, um in Ruhe weitergrasen zu können.
Thrall setzte sich auf den Boden und fühlte sich tausend Jahre alt. Er hatte Schwierigkeiten, die bestürzenden Nachrichten zu verarbeiten. Konnte das wirklich alles wahr sein? Der Mord an den Druiden, Cairnes Tod, ungezählte tote Tauren mitten im Herzen ihres Landes? Er spürte, wie sich alles um ihn herum drehte, und bettete seinen Kopf in seine Hände.
Sein Geist wanderte zurück zu dem letzten Gespräch mit Cairne, und Schmerz erfüllte sein Herz. Warum hatte er seinem alten Freund so unfreundliche Worte gesagt – und ausgerechnet diese Worte waren das Letzte gewesen, was Cairne von ihm gehört hatte. Der Tod dieses einen schien ihn stärker zu treffen als all die unschuldigen Leben, die nach dem Mord an Cairne ausgelöscht worden waren. Denn es war Mord gewesen. Kein ehrenhafter Tod in der Arena, sondern ein heimtückischer Giftmord.
Er zuckte zusammen, als sich eine Hand auf seine Schulter legte, und fuhr hemm. Aggra saß neben ihm. Wut stieg in ihm auf, und er zischte: „Bist du hier, um dich an meinem Unglück zu laben, Aggra? Um mir wieder vorzuwerfen, was für ein jämmerlicher Kriegshäuptling ich doch bin? Oder möchtest du mir vorhalten, dass meine Loyalität sowohl den Menschen als auch unserem Volk gegenüber das Leben eines meiner liebsten Freunde gekostet hat und das von zahllosen Unschuldigen?“
Ihre braunen Augen blickten unglaublich sanft, als sie schweigend den Kopf schüttelte.
Thrall schnaubte und blickte zum Horizont. „Wenn du es tätest, wäre das nichts, was ich nicht schon selbst getan hätte.“
„Das habe ich angenommen. Man braucht keine Hilfe, wenn man sich Vorwürfe macht.“ Sie sprach leise, und Thrall vermutete, dass sie entsprechende Erfahrungen gemacht hatte. Aggra zögerte, doch dann sagte sie: „Ich hatte mich in dir getäuscht und möchte mich entschuldigen.“
Er winkte ab. Nach dem, was er sich gerade hatte anhören müssen, waren Aggras schneidende Kommentare das Geringste seiner Probleme. Doch sie gab nicht auf.
„Als ich das erste Mal von dir hörte, war ich aufgeregt. Ich bin mit den Geschichten über Durotan und Draka aufgewachsen und verehrte ganz besonders deine Mutter. Ich... ich wollte wie sie sein. Und als ich von dir hörte... Wir alle hier dachten, du würdest nach Nagrand heimkehren. Doch du bliebst in Azeroth, selbst nachdem wir, die Mag’har, uns der Horde angeschlossen hatten. Du gingst Allianzen ein mit merkwürdigen Wesen, und ... ich... ich fühlte mich verraten, weil Drakas Sohn sein Volk verlassen hatte. Aber dann kamst du zurück. Doch nur ein einziges Mal, und du bliebst auch nicht lange. Ich konnte nicht verstehen, warum.“
Thrall hörte aufmerksam zu und unterbrach sie nicht.
„Dann kamst du wieder und wolltest an unserem Wissen teilhaben, an dem Wissen, das wir mit Schmerz und Mühe erkauft hatten. Du wolltest nicht die Welt retten, die unser Volk hervorgebracht hatte, sondern diesen merkwürdigen, fremden Ort. Ich war so unglaublich wütend darüber, und deshalb war ich so abweisend zu dir. Es war selbstsüchtig und oberflächlich von mir.“