„Warum hast du deine Meinung geändert?“, fragte er neugierig.
Sie hatte wie er zum Horizont geblickt, doch jetzt wandte sie den Kopf und sah ihn an. Das Licht des späten Nachmittags beleuchtete ihr braunes und so überaus orcisches Gesicht. Thrall, der daran gewöhnt war, Harmonie und Schönheit in den Gesichtern der Menschenfrauen zu finden, wurde plötzlich von ihrem Anblick überrascht.
„Es begann bereits vor dem Ritus der Sicht“, sagte sie leise. „Da hatte ich damit begonnen, meine Ansichten über dich zu ändern. Du hast den Köder nicht geschluckt, bist mir nicht wie ein Fisch ins Netz gegangen. Auch hast du deinen Einfluss bei unserer Großmutter nicht geltend gemacht, um von einer anderen Lehrerin unterwiesen zu werden. Je mehr ich dir zusah und zuhörte, desto mehr erkannte ich... dass dir diese Sache wirklich wichtig ist.
Ich war bei dir und erlebte, wie du wie ein wahrer Schamane mit den Elementen lebtest, und ich sah und teilte deinen Schmerz und deine Freude. Ich beobachtete dich mit Taretha, mit Drek’Thar, mit Cairne und Jaina. Du lebst, woran du glaubst, auch wenn du das zuvor nicht verstanden hast. Du bist kein machthungriges Kind, das ständig nach einer neuen Herausforderung sucht, sondern du kämpfst, um für deine Leute das Beste zu tun – und zwar für alle, nicht nur für die Orcs oder die Horde. Auch für deine Rivalen willst du nur das Beste. Du willst das“, sagte sie und schlug mit ihrer braunen Hand in einer liebevollen Geste flach auf den Boden, „was das Beste für die Welt ist.“
„Ich bin mir nicht sicher, ob das, was ich getan habe, wirklich das Beste ist“, gestand Thrall leise ein. „Wenn ich geblieben wäre...“
„Dann hättest du nicht gelernt, was du hier gelernt hast.“
„Cairne würde noch leben. Und auch die Tauren vom Donnerfels und...“
Ihre Hand schoss vor und packte ihn am Arm. Ihre Nägel schnitten ihm tief und schmerzhaft ins Fleisch. „Was du gelernt hast, könnte alles retten. Alles!“
„Oder nichts“, entgegnete Thrall. Er zog seinen Arm nicht zurück, sondern schaute zu, wie das Blut unter ihren Nägeln hervorquoll.
„Du hast die Möglichkeit ergriffen, die sich dir bot, statt dem unausweichlich scheinenden Untergang tatenlos entgegenzusehen. Wenn du nichts getan hättest, dann wärst du nicht Kriegshäuptling geworden. Du wärst ein Feigling und einer solchen Ehre unwürdig.“ Ihr Gesicht nahm einen enttäuschten Ausdruck an. „Doch wenn du dich nun in Selbstmitleid ergehen willst, dann heul nur, armer Go’el. Tu das, wenn es das ist, was du möchtest. Doch das wirst du ohne mich tun müssen.“
Sie wollte bereits aufstehen, doch Thrall packte sie am Handgelenk. Aggra blickte ihn überrascht an.
„Wie hast du das gemeint?“, fragte er.
„Wenn du es vorziehst, dich dem Selbstmitleid hinzugeben, statt zu handeln, dann beweist du, dass ich mich in dir getäuscht habe. In diesem Fall würde ich dich nicht nach Azeroth begleiten.“
Er verstärkte den Druck auf ihr Handgelenk. „Du... du wolltest mit mir nach Azeroth gehen? Warum?“
Aggras Gesicht nahm einen seltsamen Ausdruck an, und schließlich platzte es aus ihr heraus: „Weil ich herausgefunden habe, dass ich nicht mehr von dir getrennt sein will, Go’el. Doch offenbar habe ich mich getäuscht. Du bist nicht der, für den ich dich gehalten habe. Ich gehe nicht mit jemandem, der...“
Thrall zog sie in seine Arme und presste sie an sich. „Ich wünsche mir, dass du mit mir kommst. Geh mit mir, wo immer unser Weg uns auch hinführen mag. Ich habe mich daran gewöhnt, dass du mich korrigierst, wenn ich falschliege... Ich höre deine Stimme gern, wenn du sanft mit mir sprichst. Mir wäre es unerträglich, dich nicht in meiner Nähe zu haben. Kommst du mit? An meiner Seite?“
„Um... dich zu beraten?“
Er nickte. Seine Wange lag auf ihrem Kopf. „Um meine Weisheit zu sein, meine Luft, meine Beständigkeit, als Erde...“, er atmete tief ein, „und meine Leidenschaft und mein Herz, als mein Feuer und Wasser. Und wenn du es möchtest, dann will ich all das auch für dich sein.“
Er spürte, wie sie in seiner Umarmung erbebte, sie, die starke und mutige Aggra. Sie löste sich ein wenig von ihm und legte die Hand auf seine Brust. Ihr Blick suchte den seinen. „Go’el, solange du dieses große Herz hast, um zu führen – und zu lieben –, gehe ich mit dir bis zum Ende der Welt und darüber hinaus.“
Er strich leicht über ihre Wange – grüne Haut berührte braune –, und dann beugte er sich langsam vor, um seine Stirn sanft an die ihre zu legen.
32
Das Leichenhemd, das die Tauren ihrem Oberhäuptling Cairne Bluthuf angelegt hatten, war von exquisiter Qualität und hatte die Farben der Erdenmutter – Hellbraun, Braun und Grün.
Wie es die Tradition der Tauren vorschrieb, wurden die Toten im Rahmen einer besonderen Zeremonie verbrannt. Der Leichnam wurde auf einen Scheiterhaufen gelegt, die Asche fiel auf die Erde, und der Rauch stieg zum Himmel auf. Erdenmutter und Himmelsvater würden den geehrten Toten willkommen heißen, und An’she und Mus’sha seinen Übergang bezeugen.
Wie immer trug Thrall die Rüstung, die der verstorbene Orgrim Schicksalshammer ihm vermacht hatte. Ihr Gewicht behinderte ihn ein wenig, und Thrall konnte den Scheiterhaufen nur mühsam erklimmen, um zu dem Verstorbenen zu gelangen und zu sehen, was von Cairne übrig geblieben war. Tränen verschleierten seinen Blick.
Thrall war nach Azeroth zurückgeeilt. Er und Aggra hatten sich kurz mit Baine getroffen, und bei dieser Gelegenheit hatte Thrall den Wunsch geäußert, kurze Zeit mit Cairnes Leichnam allein sein zu dürfen. Diese Bitte war ihm gewährt worden. Später würde es lange Gespräche geben über das weitere Vorgehen und die erforderlichen Vorbereitungen. Doch nun saß Thrall bei seinem alten Freund, während die Sonne träge ihrem Weg über den blauen Himmel von Mulgore folgte. Thrall atmete tief ein und sagte leise: „Cairne, mein alter Freund... Bist du noch hier?“
Sowohl die Tauren als auch die Orcs glaubten, dass die Geister der Toten manchmal mit denen sprachen, die sie im Leben geliebt hatten. Sie sprachen Warnungen aus, erteilen Ratschläge oder spendeten Segen.
Thrall wäre schon für eines davon dankbar gewesen.
Seine Worte wurden von der sanften Brise erfasst und fortgetragen. Nichts und niemand antwortete ihm. Thrall senkte den Kopf.
„Und so bin ich wahrlich allein, denn du bist gegangen, mein alter Freund“, sagte er. „Ich kann dich nicht um Rat oder Vergebung bitten, wie ich es hätte tun müssen.“
Nur das sanfte Säuseln des Windes antwortete ihm.
„Wir sind im Streit auseinandergegangen, du und ich. Zwei, die niemals böse aufeinander hätten sein sollen, zwei, die alt genug waren, um zu wissen, dass man so nicht Abschied voneinander nehmen darf. Ich war verärgert, weil ich meine Ziele nicht erreichen konnte. Deshalb wandte ich mich von dir ab, als du weise zu mir sprachst. Das habe ich nie zuvor getan, und sieh nur, was geschehen ist. Du liegst da, ein Opfer der Heimtücke und des Verrats, und ich kann dir nicht in die Augen sehen und dir sagen, wie mir mein Herz bei diesem Anblick bricht.“
Seine Stimme versagte, und es dauerte einen Moment, bis er die Fassung wiedererlangte. Seine Rüstung wog schwer, und er schwitzte darin.
„Dein Sohn... Cairne, du wärst stolz auf ihn. Aber ich weiß ja, wie stolz du stets auf ihn warst. Er ist wahrlich dein Sohn, und er wird dein Erbe gut verwalten. Alles, wofür du gekämpft hast, wird er an eine neue Generation weitergeben. Er ließ nicht zu, dass der Schmerz seinen Geist beherrschte. Baine hat sich für die Sicherheit unserer Völker eingesetzt und sein brennendes Verlangen nach Rache unterdrückt. Die Tauren leben wieder in Frieden, was, wie ich weiß, alles war, was du dir für sie wünschtest. Selbst in den Untiefen des Schreckens – so wie in dieser fürchterlichen dunklen Nacht – überlebten dein Volk und der Geist der Horde.