Einen Kontinent entfernt fuhr Drek’Thar, der ein wenig gedöst hatte, aus dem Halbschlaf auf. Ein Schrei entrang sich seiner Kehle.
„Die Ozeane werden kochen!“
Das Bett des Ozeans war aufgebrochen, und Meilen entfernt zog sich die Flut wie ein Vorhang von dem Hafen von Sturmwind zurück. Schiffe lagen plötzlich auf dem Meeresboden, und die Bürger der Stadt, die gerade einen gemütlichen Nachmittagsspaziergang auf den schönen steinernen Kais machten, blieben stehen, schirmten ihre Augen gegen das Licht der untergehenden Sonne ab und tuschelten überrascht miteinander.
Der Ozean zog sich einen Moment lang in sich selbst zurück, kehrte dann jedoch mit tödlicher Wucht zurück. Die großen Schiffe, die zu solch exotischen, weit entfernten Orten wie Auberdine oder der Valianzfeste fuhren, wurden zerschmettert wie Spielzeugschiffe unter dem Fuß eines zornigen Kindes. Ihre Überreste und die Leichen der Seeleute wurden in die Docks geschleudert. Das Wasser zerstörte die Hafenanlagen und riss die nunmehr entsetzt schreienden Spaziergänger mit sich fort, während es unerbittlich vorwärtsströmte. Es stieg immer weiter und überflutete alles, was sich ihm in den Weg stellte. Sogar die mächtigen Steinlöwen, die über dem Hafen Wache hielten, verschwanden im Wasser. Erst dann kam es zum Stehen.
Weiter südlich hatte sich ein Spalt in der Erde vor der Küste von Westfall aufgetan und ein gewaltiges Loch in den Boden gerissen. Der Ozean war wütend und verängstigt, und er richtete seinen Zorn gegen das Land, das mit Verzweiflung antwortete.
Drek’Thar klammerte sich an Palkar, schüttelte ihn und rief: „Das Land wird weinen, und die Welt wird auseinanderbrechen!“
Unter Thrall splitterte die Erde.
Er sprang beiseite und rollte sich ab. Kaum wieder auf den Füßen, wurde er erneut umgeworfen. Der Boden unter ihm drängte aufwärts, als würde Thrall auf einer großen Kreatur reiten, die ihn hoch und immer höher hob. Er krallte sich am Boden fest, unfähig, aufzustehen oder gar zu fliehen. Wohin hätte er auch fliehen können?
Erde, Boden und Stein, ich erbitte eure Ruhe. Sagt mir, was euch verängstigt, und ich werde ,..
Die Erde erhob ihre Stimme. Es war ein Dröhnen, ein gequälter Schrei.
Thrall spürte den Riss in der Welt. Er befand sich nicht hier, nicht in Donnerfels, nicht einmal in Kalimdor – er lag im Osten, mitten im Ozean, im Zentrum des Mahlstroms... Das war es also, wovor die Elemente solche Angst hatten. Ein Beben, ein Kataklysmus, die Erde brach auf, wie Draenor aufgebrochen war. Aufgrund seiner Verbindung mit den Elementen spürte Thrall ihre Panik. Er warf den Kopf zurück und stieß einen ohrenbetäubenden Schrei aus, bevor er in Ohnmacht fiel.
Er erwachte von der sanften Berührung liebevoller Finger, die über sein Gesicht strichen. Als er die Augen öffnete, sah er Aggra, die mit einem besorgten Gesichtsausdruck auf ihn hinabblickte. Sie entspannte sich, als er ihr schwach zulächelte.
„Du bist härter, als du aussiehst, Sklave“, neckte sie ihn und konnte ihre Erleichterung nicht verbergen. „Einen Moment lang dachte ich, du hättest dich entschlossen, zu den Ahnen zu gehen.“
Thrall sah sich um und begriff, dass er in einem der Zelte auf Donnerfels lag, möglicherweise auf der Anhöhe der Geister. Baine stand neben ihm.
„Wir haben Euch auf dem Boden liegend gefunden, nur ein kleines Stück von der Begräbnisstätte entfernt, und haben Euch hergebracht, mein Freund“, sagte Cairnes Sohn. Er lächelte. „Mein Vater liebte Euch im Leben, Thrall, Sohn von Durotan, aber ich glaube nicht, dass Ihr ihm so schnell in den Tod nachfolgen sollt.“
Thrall richtete sich mühsam auf. „Die Warnung, die Gordawg uns gab...“, sagte er. „Wir sind zu spät.“
Aggras Augen waren voller Mitgefühl. „Ich weiß. Aber ich weiß auch, wo die Wunde entstanden ist.“
„Im Mahlstrom“, sagte Thrall. „Das habe ich erfahren, bevor ich...“ Er verzog das Gesicht.
Sie berührte seine Schulter, fuhr über den weichen Stoff seiner Robe. „Du trägst deine Rüstung nicht mehr“, sagte sie ruhig.
„Nein“, antwortete Thrall, „das tue ich nicht.“ Er lächelte sie liebevoll an. „Ich habe meine Haut abgestreift.“ An Baine gewandt sagte er: „Wenn Ihr... Wenn ich Euch bitten dürfte, sie holen zu lassen. Obwohl ich die Rüstung nicht mehr tragen werde, möchte ich, dass sie nach Orgrimmar gebracht wird. Sie ist ein wichtiger Bestandteil unserer Kultur.“
„Natürlich, Thrall. Das wird erledigt.“
Aggra lehnte sich zurück und blickte die beiden an. „Also was machen wir jetzt?“
Thrall streckte die Hand aus und ergriff die des jungen Bluthuf. „Baine... Ihr wisst, ich kam zurück in der Hoffnung, der Horde und den Elementen zu helfen. Ich glaube, ich kann beides noch immer erreichen. Nur... als Kriegshäuptling ist mir das nicht möglich.“
Baine lächelte traurig. „Ich mag Garrosh Höllschrei nicht, obwohl ich sicher bin, dass er von dem Gift auf seiner Axt nichts wusste. Mir wäre es lieber, wenn Ihr die Horde anführt. Aber nach allem, was geschehen ist, kann ich verstehen, dass Ihr gehen müsst. Es sind Berichte hereingekommen... An jedem Ort an der Küste, der nach Süden ausgerichtet ist, gab es Flutwellen und Stürme. Theramore, Sturmwind, Westfall, Ratschet, Dampfdruckpier, Unterstadt, sie alle sind von schweren Beben erschüttert worden. Feuer, die durch Blitzschläge verursacht wurden, brennen im Eschental.“
Thrall schloss die Augen. „Euer Verständnis macht es mir leichter, Baine. Ich liebe die Horde. Gemeinsam mit Eurem Vater habe ich sie zu dem gemacht, was sie heute ist. Aber es gibt eine dringendere Angelegenheit, und um diese muss ich mich kümmern, und zwar sofort. Ich schicke eine Botschaft nach Orgrimmar und bereite mich darauf vor, mit dem Schiff abzureisen und diese... Wunde der Welt zu untersuchen. Die Horde muss selber sehen, wie sie ohne mich zurechtkommt.“
Drek’Thar weinte. Die Tränen strömten unaufhaltsam aus seinen blinden Augen. Palkar zweifelte nicht an der Vision des alten weisen Mannes. Zwar spürte er nichts, zumindest nicht hier und nicht physisch, aber er fühlte das Leid der Welt. Als Drek’Thar weinend sein Gesicht dem jüngeren Orc zuwandte, wartete Palkar darauf, was der Seher ihm mitteilen würde. Das Blut in seinen Adern schien zu gefrieren, als er die Worte des Alten hörte. „Jemand bricht die Tür auf! Lasst ihn nicht herein!“ Drek’Thars Visionen hatten sich bisher stets bewahrheitet. Er hatte immer recht behalten, und Palkar bezweifelte nicht, dass es auch dieses Mal so sein würde. Die Frage war nur: Wer war dieser mysteriöse Eindringling?
Epilog
Thrall atmete die frische Seeluft ein und ließ sie mit seinem Haar und seinem Bart spielen. Möwen kreischten am Himmel, der noch immer in den Rosatönen des Sonnenaufgangs leuchtete. In der kleinen Stadt Ratschet herrschte zu dieser frühen Stunde noch eine angenehme Stille. Doch einige Leute waren schon auf den Beinen und zu ihm gekommen, um ihn zu verabschieden. Thrall schloss die Augen, atmete aus und lächelte.
„Ich mag es, wenn du lächelst“, sagte Aggra, die neben ihm stand.
Er öffnete seine blauen Augen und blickte auf sie hinab. Sein Lächeln wurde breiter. „Du solltest dich daran gewöhnen, denn in deiner Gesellschaft scheine ich das viel häufiger zu tun.“
Seine Worte entsprachen der Wahrheit, doch selbst wenn Thralls Herz bebte und sein Geist im Einklang mit seiner Entscheidung war, gab es noch viele Unsicherheiten und, dessen war er sich sicher, einige Probleme, die gelöst werden mussten. Er nahm Aggras Hand in die seine und drückte sie zärtlich.