»Ja.«
»Guten Tag, Valentin Romanowitsch!«
»Tag!«
»Tut mir leid, Sie zu stören. Hier ist Kirill Maximow. Der Einzelhandelsmanager.«
»Von welcher Firma?«
Beinah wäre mir das Handy aus den Fingern entglitten.
»Aus Ihrer! Aus ›Bit und Byte‹!«
Eine Pause. Ein Knistern, als halte jemand das Mikrofon mit der Hand zu. Technisch ist unser Chef eine absolute Nullnummer, nie wird er es lernen, mit der entsprechenden Taste die Verbindung zu trennen. Ich meinte: »Arbeitet bei uns ein Kirill Maximow? Im Einzelhandel?« zu hören. Anschließend wandte sich der Chef mir wieder mit ungebrochen höflichem Ton zu: »Ja?«
»Ich kann heute nicht zur Arbeit kommen, Valentin Romanowitsch. Es sind bestimmte Umstände eingetreten ...«
Erneut eine Pause und Geflüster bei abgedeckter Sprechmuschel.
»Äh? Kirill Maximow?«
»Kirill«, bestätigte ich, am Boden zerstört.
»Und wo bitte arbeiten Sie?«
»In der Einzelhandelsabteilung. Ich bin der Verkaufsmanager. Fragen Sie Andrej Isaakowitsch!«
»Andrej Isaakowitsch«, sagte der Chef absichtlich laut, »arbeitet in Ihrer Abteilung ein Kirill Maximow?«
»Nein«, vernahm ich die Antwort unseres Chefmanagers für den Einzelhandel. »Ich liege Ihnen doch ständig in den Ohren, Valentin Romanowitsch! Wir brauchen noch jemanden! Bei unserem Umsatz schaffen wir die ganze Arbeit zu dritt kaum! Das ist einfach absolut unmöglich!«
»Äh ... Kirill Maximowitsch ...«, wandte sich der Chef wieder an mich.
»Kirill Maximow!«
»Kirill Maximow. Mir ist nicht ganz klar, was Sie mit diesem Scherz beabsichtigen, aber wenn Sie in unsere Firma eintreten möchten und Erfahrungen vorweisen können ...«
»Das kann ich. Ich habe drei Jahre in dem Bereich gearbeitet.«
»Wo?«
»Bei ›Bit und Byte‹!«, brüllte ich und beendete das Gespräch.
Ein leichtes Frösteln durchlief mich. Hier ging es nicht mehr um Papiere. Valentin Romanowitsch wollte mich nicht erkennen? Nun gut. So oft hatte ich schließlich mit ihm nicht zu tun. Aber Andrjuschka Liwanow, mein Kollege, mit dem zusammen ich Industriealkohol getrunken und Arbeitsschweiß verströmt hatte?
Papiere konnte man fälschen. Wenn man mir denn unbedingt meine Wohnung abspenstig zu machen gedachte.
Menschen konnte man kaufen. Oder einschüchtern. Falls man sich das Ziel gesteckt hatte, mich zu vernichten.
Aber woher sollten mein Chef und Andrjuschka plötzlich diese schauspielerischen Fähigkeiten nehmen? Andrej mochte Liwanow heißen, vermochte sich jedoch mit seinem berühmten Namensvetter, dem Schauspieler, nicht zu messen. Dieses improvisierte Lamento über den dringend benötigten Manager hätte er nie und nimmer zustande gebracht!
Meine Hände zitterten - und daran trug das gestrige Gelage keinesfalls die Schuld. Ich sah mich um. Das war mein Hof. Meiner, ist das klar? Meiner! Diese Bänke, diese Karussells auf dem Spielplatz, die zum Stadtjubiläum frisch gestrichen worden waren, all das war meins! Dieser Hausmeister, der die feuchten Herbstblätter zusammenfegte, war meiner! Der kleine Eckladen, wo ich Brot, Wurst und Pelmeni kaufte, war meiner! Alles, was ich hier kannte und mochte, war meins. Sogar die Pfütze in dem schmalen Durchgang zwischen unserem und dem Nachbarshaus, war meine, denn sie war mir vertraut, hundert Mal hatte ich mir da nasse Füße geholt, einmal war ich sogar ausgerutscht und hineingefallen, hatte wie ein Clown mit den Armen gefuchtelt beim Versuch, den Fall abzufangen. Am Ende war ich doch auf dem Hosenboden gelandet. Anka hatte damals wie irrsinnig gelacht, und ich, in der Pfütze sitzend, stimmte bei ihrem Anblick in das Gelächter ein, während eine alte, an uns vorbeizuckelnde Oma nicht mit dem hinterm Berg zu halten vermochte, was sie über die heutige Jugend dachte, die sich um Anstand und Gewissen soff.
Ich wählte Anjas Nummer.
»Kirill, ruf mich nicht mehr an, ja?«, klang es mir entgegen. »Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben. Wirklich nicht.«
Aufgelegt.
Vermutlich war unsere Beziehung tatsächlich nicht zu kitten. Ich nahm ihr das nicht übel. Vielmehr freute ich mich! Anka hatte meine Nummer erkannt! Sie erinnerte sich an mich!
Was ging hier vor?
Ich setzte mich gemütlicher hin, lächelte dem Hausmeister zu, der mich jedoch nicht erkannte und meinen Gruß nicht erwiderte. Dann fing ich an, sämtliche Freunde, Bekannte und Geschäftspartner anzurufen, einen nach dem anderen, so wie sie im Adressbuch standen, angefangen mit dem Manager Aschimow, dem ich manchmal Rechner für unsere Firma abnahm, bis hin zu einem Bekannten meines Vaters, dem Zahnarzt Jablonski, der mir vor einem halben Jahr eine neue Füllung verpasst hatte.
Nach einer halben Stunde, als das Handy beinah leer war, gab ich die Telefoniererei auf.
Ein seltsames Bild. Nein, nicht seltsam, das wäre nur der Fall gewesen, wenn sich überhaupt keine Gesetzmäßigkeit hätte erkennen lassen. Die gab es jedoch.
Zufallsbekanntschaften wie Jablonski oder die Manager von bedeutenden Großhandelsfirmen hatten mich völlig vergessen. Bekannte, mit denen mich mehr oder weniger persönliche Erlebnisse verbanden, erinnerten sich zwar nicht auf Anhieb an mich, aber nach Sätzen wie: »Ljoschka, was ist? Leidest du an Gedächtnisschwund? Wir haben doch erst letzte Woche zusammen im Rechen ein Bierchen getrunken!« fiel ihnen wieder ein, wer ich war, und sie setzten zu verlegenen Entschuldigungen an, wobei sie die viele Arbeit vorschoben, die ihr Gedächtnis blockierte, oder die Folgen des gestrigen Besäufnisses. Ein Fünftel erinnerte sich sofort an mich: Kotja, obwohl bei ihm der noch nicht lange zurückliegende Kontakt ins Gewicht fallen dürfte, drei Frauen, mit denen mich recht warmherzige Beziehungen verbanden, und - völlig überraschend - ein Typ von der Konkurrenz. Mit ihm traf ich mich noch nicht einmal allzu häufig ... Er hatte so etwas an sich ... etwas von einem warmen Bruder ...
Ich krächzte. Na klar! Diese Geschichte hätte auch aus Kotjas Feder stammen können. Der Typ war wirklich schwul! Und offenbar hatte ich ihm gefallen. Deshalb erinnerte er sich an mich!
Warum auch immer, aber der Gedanke, Objekt der sexuellen Phantasien eines Schwulen zu sein, erschütterte mich stärker als der akute Gedächtnisschwund in meinem Bekanntenkreis. Ich erhob mich, steuerte den kleinen Laden an und kaufte Bier. Die Verkäuferinnen erkannten mich nicht wieder. Zu meiner Bank zurückgekehrt, versuchte ich, mich zu konzentrieren. Zum Teufel mit ihm, mit diesem Typ, der ein Auge auf mich geworfen hatte. Heute Abend würde auch er mich mit Sicherheit vergessen, der Widerling.
Danach würden mich wohl die Frauen vergessen, mit denen ich mal verbändelt gewesen war.
Wie ging es jetzt weiter?
Ohne Arbeit. Ohne Wohnung. Ohne Freunde.
Mein Ausweis? Was brachte mir der schon! Gefälscht, würde es heißen. Auf dem Schwarzmarkt gekauft.
Und meine Eltern?
Würden sie die Miliz rufen, wenn sie mich in ihrer Wohnung vorfanden?
Ich wählte die Nummer meines Vaters. Ich vernahm das Rascheln und Knacken des internationalen Äthers.
»Ja?«, meldete sich mein Vater aufgeräumt. »Hallo. Hier ist Kirill«, sagte ich.
»Wer ist da?«, hakte mein Vater nach.
»Kirill! Was ist? Erkennst du dein eigen Fleisch und Blut nicht mehr?«
»Ich kann dich kaum verstehen, Kirillka«, erklärte mein Vater zärtlich. »Das ist keine Mobilfunkverbindung, sondern die reinste Feldpost ... Wie geht’s? Was macht die Arbeit?«
»Hab viel zu tun«, berichtete ich und nippte an meinem Bier.
»Deine Mutter fragt, ob du gesund bist.«
»Wie ein Fisch im Wasser.«
»Ist sonst alles in Ordnung? Es ist doch nichts passiert, oder?«
Ich schluckte die Antwort ›Man hat mich rausgeschmissen, mir die Wohnung geklaut, und meine Freunde erkennen mich nicht mehr‹ herunter.