»Du hast gelogen!«, schrie Kotja. Seine Stimme klang heiser bis zur Unkenntlichkeit, anscheinend hatte seine Kehle Schaden genommen, als der Kopf den ganzen Körper hinter sich hergezogen hatte - wobei einem normalen Menschen der Kopf freilich ganz abgerissen worden wäre.
»Nimm es mir ruhig krumm«, sagte ich.
»Wie hast du ... warum ...« Torkelnd richtete sich Kotja auf. Erschrocken streckte er die Hand in meine Richtung aus. »Bleib stehen! Wir müssen miteinander reden!«
Ich jedoch ging weiter auf ihn zu. Noch verstand ich nicht, warum mir ein Schlag gelungen war, der einem Polizistenfunktional zur Ehre gereicht hätte. Ganz zu schweigen davon, dass ich nicht wusste, ob mir der Trick noch einmal glücken würde.
Stehen bleiben durfte ich jetzt jedoch nicht. Niemals darfst du zeigen, dass du lediglich einen einzigen Trumpf in der Hand hältst, ansonsten aber nur wertlose Karten.
»Wir waren doch mal Freunde ...«, setzte Kotja an und verstummte prompt. Ihm war klar, dass es uns jetzt nicht gelingen würde, miteinander zu reden.
Daraufhin zeichnete er mit einer sanften Bewegung, als dirigiere er ein unsichtbares Orchester, eine Wellenlinie in die Luft. Er zeichnete sie wirklich, denn die Luft im Kielwasser seiner Finger loderte auf und formte ungeläufige Schriftzeichen.
Kotja tat, die Autotür noch immer um den Hals, einen Schritt vorwärts, hinein in die flammende Schrift - und verschwand spurlos.
Das Feuer trübte sich ein und verflüchtigte sich in der Luft zu weißem, schweflig riechendem Rauch.
Ich hockte mich hin und lehnte mich gegen einen der schmutzigen Autoreifen. Ich wischte mir den Hals ab. Wie müde ich war ...
Der vernickelte Ring funkelte an meinem Finger.
»Danke, Nastja«, sagte ich aus irgendeinem Grund. Das klang pathetisch und überflüssig, aber ich musste unbedingt etwas sagen.
Ich wollte rauchen. Meine Zigaretten dümpelten noch irgendwo im Turm vor sich hin. Also musste ich aufstehen und das Handschuhfach des Nissans durchstöbern. Ich fand tatsächlich Zigaretten, einfache LM, die Kotja immer geraucht hatte, und mir unbekannte Treasure in einer ansprechenden quadratischen Schachtel von silberner Farbe. Die waren bestimmt teuer. Ohne falsche Bescheidenheit öffnete ich die Schachtel und steckte mir eine an.
Keine schlechten Zigaretten ... Falls sie nicht mehr als einen Fünfziger kosteten, würde ich mir ab und zu eine gönnen ...
In dem Moment klingelte in meiner Hosentasche das Handy.
Ein paarmal ließ ich es klingeln und genoss den aromatischen Rauch. Dann holte ich das Mobiltelefon heraus. »Hallo«, sagte ich, ohne vorher aufs Display geschaut zu haben.
»Wo steckst du denn, Kirill?«
In meiner Brust bummerte es. »Papa?«, fragte ich, meinen Ohren nicht trauend.
»Mama bestimmt nicht! Deine Mutter ist schon sauer, dass du dich nicht meldest. Und die armen Blumen hast du auch vertrocknen lassen. Wann hast du sie das letzte Mal gegossen?«
»Hä?«
»Wann hast du das letzte Mal die Blumen gegossen?«
»Vor ... fünf Tagen?«
»Rauchst du gerade, Kirill?«, wollte mein Vater misstrauisch wissen.
»Ja.«
»Ich hätte nie geglaubt, dergleichen einmal sagen zu müssen, aber ich hoffe inständig, dass es Tabak ist!«, knallte mir mein Vater entgegen. »Wo treibst du dich rum?«
»Also ... ich bin mal hier, mal da ... Die letzte Zeit war ich meist an der Alexejewskaja. In Kimgim, im Reservat ... in Arkan habe ich auch einmal vorbeigeschaut.«
»Ich hatte gedacht, du seist raus aus dem Discoalter«, seufzte mein Vater. »Was ist? Deine Mutter kocht gerade etwas Leckeres, ich habe einen türkischen Raki kalt gestellt. Komm vorbei, dann spendier ich uns ein Gläschen.«
»Das mach ich«, sagte ich. »Ich komme sofort. Ich habe euch so vermisst. Ich liebe euch sehr. Ich muss nur noch schnell einen Abstecher zum Rigaer Bahnhof machen. Was meinst du, kriege ich da Fahrkarten nach Charkow?«
»Vielleicht«, antwortete mein Vater, von meiner ungewohnten Gefühlsduselei irritiert. »Was treibt dich denn nach Charkow?«
»Ähm ... Geschäfte ...«, erklärte ich nebulös, während ich auf meine Beine in den durchgeweichten dünnen Schuhen guckte. »Ach was ... das erledige ich später. Ist euer Schlüssel von meiner Wohnung noch vorhanden?«
»Was hätte er denn machen sollen? Zu Staub zerfallen?«
»Genau das«, bestätigte ich. Das Handy fiepte warnend, und ich trat die Zigarette im Schnee aus. »Mein Handy ist gleich leer, Papa. Ich mach mich jetzt auf den Weg zu euch.«
Ein Auto anzuhalten erwies sich als nicht ganz so einfach. Niemand wollte vor der Brücke anhalten, noch dazu für einen schmutzigen jungen Kerl in Sommerkleidung und einer Jacke, die ihm viel zu klein war. Schließlich bremste ein zerbeulter Sechser mit einem, typisch für Moskau, Orientalen hinterm Steuer.
»Ich muss nach Perowo...«, sagte ich, als ich die Tür öffnete.
»Oho! Steig ein, mein Guter!« Der Fahrer lächelte mich unvermittelt an. Da erinnerte ich mich, dass ich mit niemand anderem als mit ihm vor nicht mal einer Woche durch die Stadt gekurvt war, in dem Versuch, wenigstens irgendeinen Beweis meiner Existenz aufzutreiben.
»Vielen Dank.« Ich nahm Platz. Dann fing ich an, angestrengt nachzudenken. Mein Umzugsgeld hatte es nicht in diese Welt geschafft. »Hör mal ... die Sache ist die ...«
»Du hast kein Geld?«
»Hm«, brummte ich. »Das heißt nein, wenn wir da sind, leih ich mir was von meinen Eltern ...«
»Du brauchst dir nichts von deinen Eltern zu leihen. Das gehört sich nicht, dass ein erwachsener Mann seine Eltern um Geld bittet«, erklärte der Kaukasier. »Sobald du wieder bei Kasse bist, gibst du mir etwas.«
»Wie denn?«
»Aller guten Dinge sind drei. Und wo ich dich jetzt schon zweimal gefahren habe ...«
Ich ließ mich auf den durchhängenden Sitz plumpsen und beobachtete mit stumpfem, teilnahmslosem Blick, wie der Fahrer, dreist von der äußeren Spur wechselnd, in den dritten Ring einbog. Irgendwann steckte ich die Hände in die Taschen von Kotjas Jacke.
In der linken fand ich sein Portemonnaie, das ich ungeniert öffnete. »Falscher Alarm«, teilte ich dem Fahrer mit. »Ich habe noch Geld.«
Falls er Verdacht schöpfte, kleidete er den nicht in Worte.
In der anderen Tasche entdeckte ich Kotjas Handy.
Neugierig rief ich das Adressbuch auf. Einige Namen sagten mir etwas, andere nicht. Beim Namen Melnikow hielt ich inne. Nach kurzem Überlegen wählte ich die Nummer.
»Hallo«, meldete sich der Schriftsteller mit der höflichen, wiewohl ungeduldigen Stimme eines beschäftigten Mannes.
»Guten Tag, Dmitri Sergejewitsch«, sagte ich. »Ich bin Kirill Maximow, der Freund von Kot... von Konstantin Tschagin. Erinnern Sie sich noch an unseren Besuch vor einer Woche? Ich rufe Sie gerade über sein Handy an.«
»Äh ... ja, ja, ich erinnere mich.« Die Stimme des Literaten verlor ein wenig von ihrem offiziellen Klang. »Sie sind doch der junge Mann, der mir diese Geschichte ... ähm ... Und wie stehen ihre Angelegenheiten? Erkennt man sie?«
»Sie haben sich nicht getäuscht, das war das Sujet eines phantastischen Romans, den ich zu schreiben beabsichtige«, erwiderte ich rasch. »Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen das Ganze als reale Geschichte dargestellt habe. Mir war gleich klar, dass Sie mir das nicht abgenommen haben.«
»Wissen Sie, junger Mann, wenn Sie schon all die Geschichten geschrieben hätten, die ich erfunden habe ...« Der Schriftsteller lachte zufrieden. »Nur zu, schreiben Sie Ihren Roman! Mich interessiert, welche Auflösung Sie zu bieten haben. Und sagen Sie, die Sache mit dem Ausweis ...«
»Chemikalien«, erklärte ich. »In der Schule habe ich mich für Chemie begeistert.«
»Ah ja«, brachte Melnikow mit höchster Genugtuung vor. »Habe ich also auch da richtig gelegen. Das sollte Ihnen eine Lehre sein! Glauben Sie nie wieder, ein Fantasyund SF-Autor habe etwas für Mystik übrig.«