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»Alles bestens! Wie ist euer Urlaub?«

»Prima. Die Türken renken sich ein Bein für uns aus, würden sich aber am liebsten die Finger nach unserem Portemonnaie verrenken«, flachste mein Vater. »Es war ein Fehler von dir, nicht mitzukommen.«

»Schön«, freute ich mich.

»Rufst du einfach so an oder aus einem bestimmten Grund? Vermisst du uns?«

»Hm.«

»Komm, in drei ... nein, in vier Tagen sind wir ja wieder da. Deine Mutter hat sich schon mit Souvenirs eingedeckt.«

Ich nickte. Ein paar T-Shirts mit Aufdrucken à la: »Die Türkei, das Land der tollen Frauen«, eine - gleichsam in Ausübung eines Rituals - am Strand gesammelte Muschel, eine Flasche irgendeines türkischen Anisschnapses.

»Mach’s gut, Kirill«, fuhr mein Vater fort. »Meine Karte ist fast leer, und zu roamen ist verdammt teuer.«

»Soll ich dir was überweisen?«, fragte ich.

»Nicht nötig, so schlimm ist es nicht. Tschüs!«

»Tschüs, Papa«, sagte ich.

Aus irgendeinem Grund verdüsterte sich mein Inneres. Okay, sie hatten mich erkannt, besorgten sogar Geschenke, aber ...

Durfte ich mich darauf verlassen? Wenn vierundzwanzig Stunden ausreichten, damit sämtliche Freunde mich vergaßen, dann brauchten meine Eltern dafür halt länger. Viel länger. Vielleicht eine ganze Woche. Aber früher oder später - da war ich mir fast sicher - würden auch sie mich vergessen. Verwundert würden sie meine Fotos anstarren. Das heißt: Wer garantierte mir denn, dass nicht auch die Bilder verschwinden würden? Oder an ihre Stelle ganz andere Aufnahmen träten?

Was sollte ich tun?

»Ich brauche einen Experten«, murmelte ich. Daraufhin nickte ich mir selbst zu. Ja, ich brauchte in der Tat einen Experten. Einen Menschen, der wenigstens ansatzweise etwas von dem verstand, was hier vor sich ging. Einen Bullen? Kaum. Einen Anwalt? Unter gar keinen Umständen. Einen Parapsychologen? Vielleicht. Schließlich handelte es sich um eine Geschichte, die auf logische Weise nicht zu erklären war. Also einen Parapsychologen! Oder einen Priester?

Verlegen berührte ich das Kreuz, das mir um den Hals hing. Formal war ich orthodox. Getauft war ich nicht im Kindesalter worden, sondern als ich bereits alles voll begriff. Als ich das alles schon bewusst miterlebte. In die Kirche ging ich auch. Ab und an. Einmal im Jahr legte ich sogar die Beichte ab. Ob jetzt der Zeitpunkt gekommen war, Gott um Hilfe anzuflehen?

Mannomann, ich saß ganz schön in der Tinte! Mit Gott verhielt es sich so einfach ja auch nicht. Auf eine persönliche Audienz bei ihm brauchte ich nicht zu hoffen. Ich müsste zu einem irdischen Stellvertreter gehen. Und was würde ein vernünftiger Priester - und die meisten sind ja sehr vernünftig - wohl davon halten, wenn ich ihm meine Geschichte erzählte?

Eben. Ein kranker Mensch. Bestenfalls ein Besessener. Mit Sicherheit würde er mir Trost spenden. Er würde mir raten zu beten. Vielleicht würde er sich sogar mit mir zusammen ins Gebet versenken.

Aber wirklich glauben würde mir doch niemand. Allenfalls einer, bei dem von Vernunft keine Rede sein kann. Auf diese Hilfe konnte ich freilich verzichten.

Vorsichtshalber betete ich trotzdem. Mir wurde etwas leichter zumute - wie immer, wenn du versuchst, dein Problem auf jemand anderen abzuwälzen und dir das scheinbar auch gelingt.

Dennoch brauchte ich noch einen realen Rat - und zwar in diesem Leben.

Erneut wählte ich Kotjas Nummer.

»Ja?«, meldete sich der Held an der literarischen Front.

»Hallo. Ich bin’s, Kirill.«

»Äh ... Was für ein Kirill?«

Der Prozess schritt weiter fort. Und ganz offenbar funktionierte er nach den Schneeballsystem.

»Kotja, ich habe dich erst vor einer halben Stunde angerufen. Weißt du das denn nicht mehr?«

»Hm ...«, gab Kotja ausweichend von sich.

»Ich bin Kirill. Der Manager aus der Firma ›Bit und Byte‹. Wir kennen uns schon seit fünf Jahren! Gestern Abend bin bei dir gewesen, und wir haben zwei Flaschen Kognak geleert!«

Eine lange Pause.

»Kirill, könntest du jetzt herkommen?«, fragte Kotja.

»Ja«, antwortete ich erleichtert.

»Gut. Aber beeil dich. Hier ist etwas Merkwürdiges in Gang.«

»Ach nee? Das ist mir auch schon aufgefallen«, zischte ich giftig, während ich mich von der Bank erhob.

Vier

Mit den Anschlüssen hatte ich heute Glück. Schon in vierzig Minuten war ich bei Kotja. Ich klingelte an der Tür.

Kotja öffnete mir nicht sogleich. Außerdem musterte er mich mit unverhohlener Neugier.

»Kotja, ich bin’s, Kirill«, sagte ich. »Erinnerst du dich nicht mehr? Wir haben gestern Abend ...«

»... einen gehoben«, murmelte Kotja. »Noch erinnere ich mich daran. Komm rein.«

Dennoch hörte er nicht auf, mich reichlich misstrauisch zu beäugen. Nicht wie einen Fremden, aber doch wie einen ausgesprochen seltsamen Bekannten.

»Was ist nun? Erinnerst du dich?«, bohrte ich. »Hier ist irgendeine Schweinerei im Gang. Ich habe meine Freunde angerufen ...«

»Gehen wir an den Compi«, verlangte Kotja. »Lies, was da steht.«

Gehorsam setzte ich mich vor den Rechner. Auf dem Bildschirm war eine Textdatei geöffnet. Fragend blickte ich Kotja an.

»Lies alles von Anfang an«, forderte er mich auf und ließ sich aufs Sofa plumpsen.

Ich fuhr mit dem Cursor zum Textanfang und fing brav an zu lesen.

Einzelunterricht

Semjon Makarowitsch, ein vierzigjähriger Sportlehrer, beobachtete aufmerksam die frühreifen Achtklässlerinnen, die gerade im Sportsaal der Schule turnten. Da kam Julja zu ihm und sagte: »Nie kriege ich einen Spagat hin.«

»Dann wirst du für dieses Quartal nur eine Drei bekommen«, erklärte Semjon Makarowitsch. »Du bist nicht geschmeidig genug.«

Julja, die unumstrittene Musterschülerin, erbleichte. »Bloß keine Drei, Semjon Makarowitsch! Lässt sich denn da gar nichts machen?«

»Warum sollte sich da nichts machen lassen? Komm nach der letzten Stunde zu mir. Dann kriegst du von mir Einzelunterricht zur Verbesserung deiner Geschmeidigkeit.«

Ich sah Kotja an.

»An diesem Machwerk habe ich gesessen, als du angerufen hast«, rechtfertigte sich dieser mit gerunzelter Stirn. »Lies weiter.«

Die hochspannende Geschichte von dem vierzigjährigen Sportlehrer und der ungeschmeidigen Musterschülerin brach an dieser Stelle ab. Nun würde ich also nie erfahren, mit welchen Methoden der alte Lüstling für die weitere Entwicklung der ohnehin frühreifen Schülerin zu sorgen gedachte. Dafür betraf der folgende Passus mich selbst.

Eben hat mich mein alter Freund Kirill Maximow angerufen. Etwas stimmt da nicht, denn ich habe ihn nicht erkannt. Dabei haben wir den ganzen gestrigen Abend bei einer Flasche Kognak zusammengehockt...

»Bei zwei Flaschen«, korrigierte ich.

Erst als er das erwähnte, fiel mir wieder ein, wer er war. Allerdings ist diese Erinnerung höchst merkwürdig. Den gestrigen Tag habe ich anscheinend lückenlos präsent. Ich erinnere mich genau, woran ich gearbeitet habe. Und auch, dass ich abends mit jemandem etwas getrunken habe. Aber mit wem, das war mir vollständig entfallen, bis Kirill dann anrief. Auch an sein Gesicht erinnere ich mich nur mit Mühe. Überhaupt herrscht in meinem Kopf ein einziges Chaos, wenn es um ihn geht. An manches erinnere ich mich, an anderes nicht.

»Zu viel ›erinnern‹«, krittelte ich. »Du solltest auf deinen Stil achten, Herr Literat.«

»Der Stil interessiert mich einen Scheißdreck«, zischte Kotja. »Lies weiter!«

Im Folgenden hatte Kotja unser gestriges Gespräch und meine Misslichkeiten recht detailliert wiedergegeben. Der Text riss mit dem Satz: »Ich habe den starken Verdacht, dass, wenn Kirill eine halbe Stunde später angerufen hätte und es mir nicht gelungen wäre, diesen Text zu schreiben, ich ihn überhaupt nicht mehr erkannt hätte.«