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Seufzend drehte ich mich auf dem Stuhl Kotja zu.

»Solange ich an dich denke«, sagte Kotja niedergeschlagen, »ist alles im Lot. Ich erinnere mich an dich und alles, was mit dir zusammenhängt. Aber kaum beschäftige ich mich mit was anderem ... Vorhin bin ich rausgegangen, um mir einen Kaffee zu kochen. Als ich zurückgekommen bin, wollte ich die Erzählung über den Sportlehrer fortsetzen. Doch sobald ich auf den Bildschirm geblickt habe, habe ich diesen Text entdeckt, der da nicht hingehört. Da habe ich angefangen, ihn zu lesen. Darauf fiel mir alles wieder ein. Allerdings ... war alles irgendwie vernebelt.«

»Was geht hier vor, Kotja?«, fragte ich.

»Vergisst du vielleicht auch etwas?«, fragte Kotja hoffnungsvoll.

»Nicht das Geringste. Die Leute vergessen mich. Meine Eltern erinnern sich noch gerade so an mich, Anka auch ... und noch ein paar Frauen ...«

»Alle, die eine engere emotionale Beziehung zu dir haben«, schlussfolgerte Kotja.

»Wie meinst du das?«

»Es sind diejenigen, die ständig an dich denken. Das gibt ihnen keine Gelegenheit, dich zu vergessen ... zumindest nicht so schnell. Schließlich vergessen wir alle ständig was. Das ist doch ganz normal. Wenn eine Information ohne Belang für uns ist, wenn wir sie nicht brauchen, dann löscht das Gedächtnis sie ... oder packt sie in irgendeinen entfernten Kasten. Mein Computer macht das genauso, in regelmäßigen Abständen fragt er mich: ›Sie haben bereits seit einem halben Jahr nicht mehr auf dieses Programm zugegriffen, brauchen Sie es noch oder wollen Sie es löschen?‹ Insofern wäre das ganz normal ... wenn es nicht so schnell ginge. Als ob du Gedächtnisschwund hast.«

»Wieso ich? Ich erinnere mich an alles! Den Gedächtnisschwund haben meine Freunde.«

»So etwas gibt es nicht«, sinnierte Kotja düster. »Hör mal, Kirill, du bist ein feiner Kerl, ich mag dich sehr gern, aber ich habe nicht die Absicht, den lieben langen Tag an dich zu denken. Stell dich darauf ein! Denn wenn ich nicht ständig an dich denke, vergesse ich dich total. Da helfen keine Aufzeichnungen.«

»Heldentaten werde ich von dir keine verlangen«, brummte ich. »Was ist? Soll ich das Geschreibsel löschen und gehen?«

Kotja ließ sich die Sache einen Moment lang durch den Kopf gehen. In erster Linie wohl, um an meinen Nerven zu zerren.

»Nein, warte. Ich bin doch neugierig. Was hast du heute gemacht?«

»Als Erstes habe ich die Behörden abgeklappert ...«, fing ich meine Aufzählung an. Kotja hörte mir gespannt zu und nickte hin und wieder.

»In der Kirche bist du also noch nicht gewesen?«, fragte er.

Ich glotzte ihn mit großen Augen an. Kotja war zwar kein eingefleischter Atheist, glaubte jedoch nicht an Gott. »Ist das dein Ernst?«

»Warum denn nicht? Ich bin schließlich kein Atheist, sondern Agnostiker. Ein solcher lässt theoretisch die Existenz höherer Kräfte zu. Und wenn wir es nun schon mal mit mystischen Dingen zu tun haben ...«

»Nein, ich bin nicht in der Kirche gewesen. Aber ... ich habe für mich allein gebetet ...«, gestand ich mit einem Anflug von Scham.

»Du musst in die Kirche gehen«, beharrte Kotja.

»Meinst du?«

»Unbedingt. Einen anderen Weg sehe ich nicht für dich.«

Darauf blieben wir beide stumm.

»Ich brauche Hilfe, Kotja«, sagte ich schließlich. »Vielleicht sind ja tatsächlich mystische Dinge in Gang? Kennst du nicht einen Parapsychologen?«

»Woher sollte ich den denn kennen?«

»Na ja ... du schreibst in deiner sexfreien Phase schließlich über allerlei phantastisches Zeug ... Kennst einen Haufen Leute ...«

»Was soll das heißen?! Die Leute, die ich kenne, kochen auch nur mit Wasser! Glaubst du etwa, ich gehe bei so einem Pseudomedium vorbei, um anschließend über ihn zu schreiben? Nimmst du womöglich sogar an, ich würde Schäferhunde bumsen, um das danach zu beschreiben? All das entsteht in meinem Kopf, Kirill! All das ist dem Bedürfnis der Leserschaft geschuldet! Es gibt keine echten Übersinnlichen ... zumindest kenne ich sie nicht ...«

»Dann bleibt mir wohl tatsächlich nichts anderes übrig, als in die Kirche zu gehen«, stellte ich fest.

»Wart mal. Ich weiß noch jemanden, an den wir uns wenden können.«

Fragend schaute ich Kotja an.

»Dmitri Melnikow. Was sagst du dazu? Ist das nicht ein guter Gedanke?«

»Was denn? Den kennst du?«, verwunderte ich mich.

»Oh! Jetzt fängt bei dir der Gedächtnisschwund also auch schon an!«, kicherte Kotja. »Ja, den kenne ich. Zwar nicht sehr gut, aber Melnikow ist ein zugänglicher, ein geselliger Mann. Allerdings kostet uns das eine Flasche Kognak.«

Dmitri Melnikow war ein Mann mit einem seltenen Beruf. Bereits seit zwanzig Jahren schrieb er utopische und phantastische Literatur und hatte anscheinend Erfolg in diesem Genre. Zumindest lebte der Experte für außerirdische Monster und russische Vampire in einem modernen Hochhaus im Kutusowski-Prospekt, das mit einem sauberen Aufgang und einem wackeren Großväterchen als Concierge aufwartete, dessen stramme Haltung und stechender Blick auf eine frühere Tätigkeit als Lageraufseher hindeuteten.

Melnikow besaß eine weitläufige und teuer eingerichtete Wohnung, er selbst machte einen durchaus gut situierten Eindruck. Insgeheim hatte ich schon immer geargwöhnt, ein Autor, dessen Helden Armaturen mit den Zähnen verbiegen und mit einem Fußtritt Betonmauern einreißen, würde selbst nicht von sonderlich heroischem Körperbau sein. Melnikow stellte sich denn in der Tat als Mann in mittleren Jahren, von mittlerer Größe und mit mittlerer Schulterbreite heraus - trug dafür aber einen exzeptionellen Bauch vor sich her.

Kotja empfing er gleichsam mit offenen Armen. Auch ich war eines Handschlages des Herrn über die Seelen naiver Jungs und romantischer Mädels würdig.

»Gehen wir in mein Arbeitszimmer, Leute«, schlug er, ganz der unsere, vor. »Wenn ihr wollt, könnt ihr gern Hausschuhe anziehen.«

Irgendwo in den Tiefen der Wohnung klapperte Geschirr, plärrte eine Kinderstimme, belferte ein Hund. Hinter der massiven Tür des Arbeitszimmers trat dann jedoch sofort Stille ein. Hier schnurrte bloß ein neumodischer Player, so ein absolut durchsichtiges Ding, bei dem man beobachten konnte, wie sich die CD dreht und sich Unmengen überflüssiger, vermutlich einzig um des ästhetischen Effekts willen integrierter Leuchtdioden zuzwinkern.

»Und innen drin hat sie eine Neonröhre!«, murmelte ich.

»Oh!« Melnikow musterte mich erfreut. »Wie angenehm, einen gebildeten Menschen zu treffen! Wer erinnert sich denn sonst noch an die Klassiker? Als ich einmal die Strugatzkis ohne Anführungszeichen zitiert habe, sozusagen, um ihnen literarisch Reverenz zu erweisen, hielten die Leser das für meine Worte.«

Selbst ohne dieses alberne Geschwätz war meine Laune schon nicht gerade fabelhaft. »Wenigstens haben die Leser einen guten Geschmack.«

Daraufhin verstummte Melnikow. Offenbar grübelte er darüber nach, ob er die Bemerkung ignorieren oder Kotja und mich rausschmeißen sollte.

Er ignorierte sie. »Zum Geschmack sollte möglichst auch die allgemeine Belesenheit hinzukommen«, murmelte er bloß. »Wie kann man sich nur auf einen einzigen Autor stürzen? Bloß ihn lesen? Selbst wenn dieser Autor ich wäre!«

Kotja kicherte. Er holte aus einer Tüte, die Melnikows Blick ohnehin nicht entgangen war, eine Flasche Kognak.

»Ah ja«, sagte Melnikow. Er öffnete den Schrank, der eine Bar beherbergte, die einiges von einem Ödland trennte. Ihr entnahm er Schwenker, die er auf den Glastisch vorm Sofa stellte. »Soweit ich es verstanden habe, seid ihr nicht nur gekommen, um mit mir ein Gläschen zu trinken«, meinte er nach kurzem Nachdenken.

»Wir sind dringend auf Ihre Hilfe angewiesen«, sagte Kotja. »Kirill ist da in eine merkwürdige Situation hineingeraten ...«

»Ich bin kein Verleger«, wehrte Melnikow rasch ab. »Ich könnte ihm raten, bei wem er einen Roman einreichen soll ...«