»Aber nein, nicht doch, Kirill schreibt nicht.« Kotja fegte den Gedanken gleichsam mit den Händen fort.
Auf Melnikows Gesicht spiegelte sich unverkennbar Erleichterung wider. »Womit kann ich dann helfen?«, wollte er wissen. »Das Einzige, wovon ich wirklich etwas verstehe, ist Literatur. Genauer gesagt, Science Fiction und Fantasy.«
»Kirills Geschichte entbehrt nicht eines gewissen phantastischen Aspekts«, begann Kotja. »Aber was mische ich mich da ein? Kirill kann das selbst erzählen.«
Ohne jede Begeisterung sah mich der Schriftsteller an. Seufzend nahm ich auf dem Sofa Platz, griff nach dem Glas mit dem Kognak und fing an zu erzählen: »Gestern bin ich von der Arbeit nach Hause gekommen. Ich lebe allein ... na ja, fast allein, ich habe einen Hund ...«
Die nächsten fünf Minuten langweilte sich der Schriftsteller ganz unverhohlen. Dann jedoch schlich sich eine leichte Neugier in sein Gesicht.
Frappierenderweise brauchte ich nicht mehr als eine Viertelstunde, um den ereignisreichsten Tag meines Lebens zu schildern.
»Eine gute Geschichte.« Melnikow schenkte sich einen weiteren Kognak ein. »Also ... das ist vermutlich die Fabel Ihres ...«
»Das ist mir wirklich passiert«, widersprach ich mit düsterer Miene. Ich hatte ja vermutet, dass Schriftsteller dieses Genres als Ratgeber nicht die erste Wahl darstellten. Sie glauben noch weniger an Wunder als Prostituierte an die Liebe.
»Dmitri Sergejewitsch, das stimmt alles«, sprang Kotja mir bei.
»Zeigen Sie mir mal Ihren Ausweis«, bat Melnikow.
Ich zuckte mit den Schultern - was sollten ihm meine Papiere nutzen? -, holte meinen Ausweis aber dennoch heraus.
»Meine Güte, Kirill Danilowitsch«, entrüstete sich Melnikow, während er meinen Ausweis inspizierte. »Was um alles in der Welt haben Sie denn mit Ihren Papieren angestellt? In Ihrer Lage ...«
Ich entriss ihm das Dokument und starrte auf die Seite mit dem Foto. Ein stinknormaler Ausweis. Nur ... nur dass die Schrift extrem verblichen war. Und die Fotografie wirkte ebenfalls verblasst. Die Seiten waren vergilbt, mürbe.
»Gestern war er noch völlig in Ordnung«, versicherte ich. »Guck mal!«
Ich hielt Kotja den Ausweis hin. Entsetzt blickte dieser auf die fahlen Schriftreihen.
»Langsam wird die Sache interessant«, bemerkte Melnikow in einem Ton, der mir nicht gefiel. »Geben Sie ihn mir noch mal!«
Abermals musterte er eingehend den Ausweis, blätterte ihn durch und gab einige Laute der Verwunderung von sich.
»Was ist denn?«, wollte ich wissen.
»Wissen Sie eigentlich, Kirill, dass Sie nirgendwo gemeldet sind?«, fragte Melnikow.
Auf der Seite für die Adresse prangte in der Tat Leere. Selbst wenn ich sie unter der hellen Lampe, am Fenster, von der Seite oder gegen das Licht betrachtete - es gab keine Spuren eines Stempels.
»Du bekommst Schwierigkeiten, wenn du nicht in Moskau gemeldet bist«, meinte Kotja seufzend. »Vielleicht kannst du dich vorübergehend anmelden? Schon gut, das war nur Spaß, beruhige dich!«
Mir stand in keiner Weise der Sinn nach Scherzen. Ich steckte den Ausweis in die Tasche zurück und sah Melnikow an
»Soll ich Ihre Erzählung also für blanke Münze nehmen?«, erkundigte sich Melnikow.
Ich nickte.
»Und Sie wollen von mir als ... äh ... als Mensch, der sich verschiedene fiktive Geschichten ausdenkt, einen Rat?«
Abermals nickte ich.
Melnikow lehnte sich im Sofa zurück und bettete einen Ellbogen auf ein ledernes Kissen. Gedankenverloren drehte er den Kognakschwenker in der Hand.
»Wenn ich Strugatzki wäre, A. und B.«, begann er, »dann verhielte es sich wie folgt ... Sie wären ein Mensch, dessen Leben völlig sinnlos ist, den niemand braucht ... Sie müssen entschuldigen, das dient einzig der Veranschaulichung.«
»Schon gut, fahren Sie fort«, bat ich.
»Deshalb würde das Leben selbst, die Realität an sich, dazu ansetzen, Sie aus dem Universum zu löschen. Nach und nach würden all Ihre Spuren getilgt, zunächst sämtliche offizielle Papiere, dann die Erinnerungen von Zufallsbekanntschaften, schließlich die Erinnerungen von Freunden und Verwandten ... Enden würde alles damit ...« Er dachte einen kurzen Moment nach, dann nickte er. »Enden würde alles damit, dass Sie gleichsam zerschmölzen, sich in eine nicht wahrnehmbare und von allen vergessene Geistererscheinung verwandelten. Etwas in der Art wäre vorstellbar.«
»Ich danke Ihnen«, sagte ich, wobei mein Mund mir seltsam trocken vorkam. »Gäbe es noch andere Varianten?«
»Selbstverständlich!«, erklärte Melnikow begeistert. »Wäre ich Globatschow, dann würde ich Außerirdische die Erde erobern lassen. Ohne Rücksicht auf Verluste würden sie sich einen Vorposten erkämpfen, indem sie einen Menschen aus dem Leben verdrängen, die Erinnerung an ihn löschen, seine Papiere fälschen ... Ihren Platz würde dann ein Agent der feindlichen Zivilisation einnehmen. Enden würde alles damit, dass Sie gegen die Aliens in den Kampf ziehen, heimlich auf ihrem Planeten landen und ihnen die Hölle heiß machen.«
Diese Version stimmte mich schon optimistischer. Freilich vermochten mich meine Fähigkeiten, außerirdische Invasoren einzuschüchtern, nicht gerade zu überzeugen.
»Wenn ich Sarow wäre, der schriftstellernde Held aus Lukianenkos Roman Herbstbesuche«, fuhr Melnikow fort, »dann wären Sie ein kleiner Junge oder naiver Teenager. Eine außerirdische Zivilisation, die, wenn auch nicht gerade freundlich, so doch längst nicht derart bösartig wie bei Globatschow, würde Ihre Standfestigkeit auf die Probe stellen. Sie würden heranreifen und sich im Kampf stählen, schließlich allen die Hölle heiß machen, nebenbei zufällig Allmacht erlangen, auf diese jedoch aus unerfindlichen Gründen verzichten.«
»Das kommt für mich nicht infrage«, gab ich zu bedenken. »Aus Altersgründen. Gibt es noch mehr?«
»Wäre ich Welessow«, sinnierte Melnikow, »dann würde man Sie auf diese Weise auf den Eintritt in eine andere Welt vorbereiten - in der Sie bereits Ihre frühe Kindheit verbracht haben. In dieser Welt gäbe es eine Menge unterschiedlicher Götter, Monster und Zauberer. Sie selbst stammten vermutlich auch aus einem Götter- oder Heldengeschlecht. Und ...«
»... dann würde ich allen die Hölle heiß machen«, vermutete ich. »Um anschließend den mir gebührenden Platz einzunehmen.«
»Richtig. Allerdings würden Sie dann feststellen, dass es noch durchtriebenere Götter gibt. Sie machen sich auf, gegen sie zu kämpfen ...«
»Haben Sie noch weitere Versionen in petto?«, fragte Kotja. Offenbar liebte er dieses literarische Genre, denn jetzt schaute er Melnikow zufrieden lächelnd an.
»Wäre ich Ochotnikow, dann würde ich überhaupt nichts erklären.« Melnikow lächelte schadenfroh. »Jeder, dem es gerade in den Sinn kommt, würde Sie piesacken. Sie würden zunächst sehr lange leiden, dann einsehen, dass Sie Ihr Leben noch einmal von Null anfangen müssen. Daraufhin würden Sie erneut wie gehabt alles erreichen und die Liebe der Frau, die Sie vergessen hatte, zurückgewinnen ...«
»Irgendwie gefällt mir das nicht«, gestand ich.
Kotja grinste.
»Wäre ich Tschudow«, meinte Melnikow mit zusammengekniffenen Augen, »dann wären Sie ein arroganter Fatzke. Ein Intelligenzler, der zwar über ausgefeilte Kenntnisse zur Psychologie seiner Mitmenschen verfügt, sich aber wie ein Armeesergeant verhält. Eine gemeine Frau würde Sie mit der Scheiße aus ihrem Nachttopf übergießen, die Bullen würden lange auf Sie einknüppeln. Bis das Blut spritzt. Aber Ihre Geistesstärke würde all das überwinden.«
Kotja prustete los.
»Wäre ich das Ehepaar Inotschenko ...« Melnikow dachte kurz nach. »... dann würden sich etliche Menschen mit solchen Gemeinheiten konfrontiert sehen, und zwar regelmäßig, alle würden damit rechnen und sich entsprechend vorbereiten. Sie wären vermutlich ein Mädchen oder eine junge Frau. Alles würde traurig, aber optimistisch enden.«