Jetzt brach Kotja lauthals in Gelächter aus. Ich selbst musste unwillkürlich schmunzeln.
»Wäre ich der junge und ehrgeizige Autor Iwan Dingsbumski, dann würde ich die Religion aufs Korn nehmen«, spann Melnikow sein Garn weiter. »Ich würde aus Ihnen zum Beispiel einen modernen Hiob machen, den der Herr in Versuchung führt und mit Leid überhäuft. In dem Fall hielte ich für Sie noch Probleme mit der Gesundheit, der Miliz und dem Verbrechermilieu bereit.«
»Das gefällt mir absolut nicht«, flocht ich ein.
»Wäre ich Dromow, dann bräche plötzlich und in der ganzen Welt eine Epidemie aus, bei der die Menschen aus der Realität getilgt würden. Sie würden beim Geheimdienst arbeiten und dieses Mysterium aufzuklären haben - bis mit Ihnen dasselbe passiert. Ich würde ein paar Erklärungen anbieten, die jedoch nicht allzu überzeugend wären - schließlich geht es ja nicht um die.«
»Und wenn Sie Melnikow wären?«, konnte ich mir nicht verkneifen zu fragen.
Melnikow seufzte. »Wenn ich Melnikow wäre ... und schließlich bin ich Melnikow ... dann würde ich kühn einen Roman mit irgendeinem vergleichbaren Plot schreiben. Sie müssen sich vor Augen halten, dass ich auch jetzt meiner Phantasie freien Lauf lasse, verschiedene Varianten entwickle ... und nur um des Vergnügens willen diese Parallelen ziehe.«
»Trotzdem! Was trifft Ihrer Meinung nach am ehesten zu?«
»Nichts von alldem!« Melnikow stürzte den Kognak in einem Zug hinunter. »Ich glaube nicht an diese dämlichen Außerirdischen, an diese Götter und Helden, an geheime Gesetze des Universums, Leiden und ähnlichen Mist! Und weder Welessow noch Dromow oder das Ehepaar Inotschenko glaubt daran! Niemand tut das! Alle Fantasy- und SF-Schriftsteller sind vernünftig denkende Menschen. Sie unterhalten lediglich ihre Leserschaft. Gut ... sie übertragen die Probleme unseres Alltags in einen phantastischen Kontext, aber doch nur, damit die Lektüre interessanter wird. Insofern sind alle Varianten möglich - und gleichermaßen irreal.«
»Aber mit mir geschieht etwas«, beharrte ich. »Ich verstehe ja, dass Sie mir nicht glauben wollen. Es nicht können. Dass Sie es für eine alberne Fopperei halten ... für die Fieberphantasie eines Kranken ... Aber lassen Sie sich doch nur mal einen Moment darauf ein! Was soll ich tun?«
Melnikow grübelte. »Hm ... Für den Anfang ... Sich an die Miliz zu wenden ist zu spät. Man würde Sie wohl vorsichtshalber verhaften, und damit wäre Ihr Schicksal besiegelt ... Halten Sie sich an diejenigen, die sich noch an Sie erinnern. Ihre engen Freunde.« Er sah Kotja an. »Ihre Eltern. Ihre Freundinnen. Lassen Sie es nicht zu, dass sie Sie vergessen. Spielen Sie auf Zeit, schließlich kann sich das Blatt noch wenden ... Was bleibt Ihnen sonst noch? Versuchen Sie, irgendein Schriftstück zu finden. Ihre Geburtsurkunde zum Beispiel. Bescheinungen von x-beliebigen Einrichtungen ... Haben Sie mal in einem Film mitgewirkt? Sind Sie mal im Fernsehen aufgetreten? Gibt es bei ihnen zu Hause Videoaufnahmen von Ihnen? Fotografien? Gehen Sie zum Arzt, lassen Sie eine Patientenakte von sich anlegen. Private Polikliniken werden keinen Ausweis von Ihnen verlangen ... Und gehen Sie in die Kirche! Beten Sie!«
»Vermutlich bleibt mir nur noch das«, sagte ich. »Zu beten.«
»Kirill«, meinte Melnikow, »ich bin bereit, Ihnen zu glauben. Und ich will ganz offen sein: Bei dem Gedanken, Sie könnten sich keinen Scherz erlauben, wird mir angst und bange. Denn wenn Ihnen dergleichen widerfahren kann, dann bin auch ich nicht dagegen gefeit. Aber ich weiß keine Antwort. Ich bin kein Orakel. Ich bin nur ein Schriftsteller. Ich kann mit Ihnen mitleiden, wir können zusammen einen trinken, ich kann Ihnen ein paar alberne Ratschläge geben. Aber damit hat’s sich!«
»Verzeihen Sie, dass wir hier so eingefallen sind«, schaltete sich jetzt Kotja ein, der wohl innerlich spürte, dass die Audienz nunmehr beendet war.
Melnikow erhob sich und schenkte den restlichen Kognak ein. »Ein letztes Gläschen auf den Weg«, sagte er.
Apathisch trank ich mein Glas aus. Wie merkwürdig: Obgleich ich kein Wunder erwartet hatte, packte mich Verzweiflung.
»Berichten Sie mir, wie sich die Dinge weiterentwickeln«, forderte Melnikow mich auf. »Und falls mir noch etwas einfallen sollte, rufe ich ... äh ... Kotja an.«
»Ich habe ein Handy«, teilte ich ihm aus irgendeinem Grund mit. »Schreiben Sie sich doch die Nummer auf.«
»Ja, selbstverständlich.« Allzu hastig sprang Melnikow auf, um auf seinem Schreibtisch nach einem Stück Papier zu angeln und die Nummer aufzukritzeln. Vermutlich würde der Zettel binnen der nächsten halben Stunde im Mülleimer landen.
Der Abschied fiel ein wenig unterkühlt aus. Unter anderen Umständen wäre Melnikow womöglich ein interessanter Gesprächspartner gewesen, und wir hätten mit ihm nicht eine Stunde, sondern den ganzen Abend zusammengesessen. Die Schuld daran trugen ohne Zweifel Kotja und ich: Wir hatten uns an einen Menschen gewandt, der seit ewigen Zeit nicht mehr an Wunder glaubte, und hatten von ihm verlangt, genau das zu tun.
Unter mehrfachen Beteuerungen, wir würden einander ›auf dem Laufenden halten‹, drückten wir uns an der Tür herum, bis Melnikow sie geschickt und irgendwie unbemerkt aufschloss, sodass uns nichts anderes übrig blieb, als ins Treppenhaus hinauszutreten. Aus den Tiefen der Wohnung drang der unverwechselbare Geruch frisch gebratener Hacksteaks. Der Schriftsteller wurde allmählich nervös.
»Wir telefonieren noch miteinander!«, versicherte Kotja aufgeräumt der sich schließenden Tür, worauf er ein vages »Hmm« erhielt und mich bedripst anschaute.
Ich zuckte bloß mit den Schultern.
»Normalerweise ist er nicht so kurz angebunden«, brummte Kotja. »Er ist sogar ganz gesellig. Ich habe eigentlich angenommen, wir würden länger bei ihm bleiben.«
»Prostituierte glauben an die Liebe«, sagte ich.
»Wie bitte?« Kotja drückte den Fahrstuhlknopf. »Was für Prostituierte? Also, nicht dass ich was gegen sie hätte ...«
»Diese Schriftsteller glauben noch weniger an ein Wunder als Prostituierte an die Liebe. Das ist mir eben bei Melnikow durch den Kopf gegangen. Dabei glauben Prostituierte an die Liebe. Insgeheim zwar und ohne ein Wort darüber zu verlieren, aber sie glauben daran. Sie träumen davon, dass es noch etwas anderes als verschwitzte dicke Männer gibt, die Sex für Geld nötig haben. Sie träumen davon und fürchten sich, daran zu glauben. Dein Melnikow dagegen ... Im Grunde will er ja, dass es das alles gibt, die Wunder, die Aliens und die Parallelwelten. Dass das nicht nur das Einwickelpapier für den Bonbon, sondern der Bonbon selbst ist ... die bunten Drops im Döschen. Aber er hat Angst, daran zu glauben! Für ihn ist es viel leichter, sich einzureden, ich sei ein Schwindler oder Irrer. Jetzt wird er nach dem Hacksteak einen Wodka trinken, sich den Hinterkopf kratzen und schließlich eine Geschichte über heimtückische Außerirdische schreiben.«
»Wie du die Sache auf den Punkt bringst!«, rief Kotja begeistert aus. Er trommelte mit den Fingern auf den Fahrstuhlknopf. »Das mit den Prostituierten, das gefällt mir!«
»Bau es in eine Geschichte ein«, schlug ich ihm vor. »Lass uns zu Fuß gehen, der Fahrstuhl ist kaputt.«
»Von wegen kaputt! Das Drahtseil bewegt sich doch!«
Ich winkte ab und nahm die Treppe.
»Elf Stockwerke zu Fuß?«, empörte sich Kotja. »Wir werden ja sehen, wer schneller ist!«
Ich hatte gerade den sechsten Stock erreicht, als der Fahrstuhl nach oben fuhr. Ihm folgte ein zweiter. Ich legte einen Zahn zu, doch etwa im dritten Stock überholte mich der hinunterfahrende Aufzug.
Letzten Endes haben die Faulen doch die Nase vorn ...
Zwei Stufen auf einmal nehmend, kam ich unten an. Kotja wollte gerade zur Haustür hinausschlüpfen.
»Hey, warte doch!«, schrie ich. »Wo willst du denn hin?«