Kotja erstarrte in der Haustür und schielte zu dem Zeitung lesenden Concierge hinüber. Ich machte ein paar Schritt auf ihn zu - und blieb stehen.
Kotja sah mich mit leerem, fremdem Blick an.
»Kotja?«, sprach ich ihn an.
»Ja?«, fragte Kotja hüstelnd.
»Was ist? Erkennst du mich nicht mehr?«
»Äh ...«, druckste Kotja. Abermals linste er zum Concierge hinüber.
»Haben die jungen Herren irgendwelche Probleme?«, fragte dieser argwöhnisch.
»Nein, überhaupt nicht«, antwortete ich, während ich, mich an Kotja vorbeischlängelnd, nach draußen ging. »Es ist alles in Ordnung!«
»Wo kommen Sie eigentlich her?«, schrie der Concierge mir nach.
Ich gab keine Antwort. Ich blieb stehen und wartete, bis Kotja unsicher aus dem Haus trat. Er hatte zwar keine Angst, war aber merklich nervös.
»Kotja?«, sagte ich noch einmal. »Kostja?«
»Ich erinnere mich nicht an ... an Sie«, erklärte Kotja aufrichtig und entspannte sich ein wenig. »Sind Sie ein Bekannter von Melnikow?«
»So gesehen, ja«, antwortete ich. »Ein Bekannter. Erinnerst du dich wirklich nicht an mich?«
Kotja schüttelte den Kopf. »Was ist denn passiert?«, fragte er.
»Du ... Sie haben doch eben Melnikow besucht, oder?«, kapitulierte ich.
Kotja nickte.
»Ist er zu Hause?«
»Ja, natürlich.« Unbehaglich trat Kotja von einem Fuß auf den anderen. »Sie wollen also zu Melnikow? Entschuldigen Sie, Ihr Gesicht kommt mir bekannt vor, aber ich bringe Sie einfach nicht unter ...«
»Machen Sie sich deshalb keine Sorgen«, beruhigte ich ihn. »Ich habe so ein Allerweltsgesicht, das prägt sich niemand ein.«
»Gut, dann gehe ich jetzt mal ...« Kotja machte einen Schritt, lugte noch einmal zu mir her, als wolle er etwas sagen, schüttelte dann jedoch bloß den Kopf und wandte sich ab.
Ich holte meine Zigaretten heraus und zündete mir eine an. Der Rauch war süß und bitter zugleich. Hinter dem kleinen Glasfenster in der Eingangstür tauchte das Gesicht des Concierge auf. Das wackere Großväterchen war auf der Hut. Fehlte bloß noch, dass er die Miliz holte!
Erneut versenkte ich eine Hand in die Tasche, diesmal um meinen Ausweis herauszuholen. Ich schlug ihn auf. Die mürben Seiten zerfielen in meinen Händen, das Foto löste sich mit einem Schnalzen und segelte auf den Asphalt. Als ich es aufhob, vermochte ich in dem grauen Quadrat mein Gesicht schon nicht mehr zu erkennen.
Mir war kalt. Immerhin hatten wir schon Herbst. Und der Winter versprach streng zu werden ...
»Also gut«, grummelte ich, als wollte ich jemandem drohen oder einen Plan schmieden. »Also gut? Also gut!«
Erstens: Wunder gibt es nicht.
Zweitens: Ausnahmen schon, aber nur bei bösartigen Wundern.
Doch wenn die Zeit der bösartigen Wunder gekommen ist, dann hat es keinen Zweck, ein guter Mensch zu bleiben.
Fünf
In den Fenstern meiner Wohnung brannte kein Licht. Die holde Natalja Iwanowa dürfte sich ja wohl kaum schon um acht Uhr abends schlafen gelegt haben ...
Ich begab mich in den fünften Stock hinauf und klingelte an meiner Tür. Cashew kläffte los, verstummte dann aber in aller Wachsamkeit. Einige Minuten lang wartete ich vor der Tür, bevor ich schließlich mit den Schultern zuckte und wieder in den Fahrstuhl stieg. Falls mich jemand durch den Spion beobachtete, dann würde dieser Jemand jetzt im großmütterlichen Gang zurück zum Fernseher schlurfen und sich einprägen, dass ein Galan die Frau Nachbarin aufgesucht hatte. Daran, dass die alte Hexe Galina Romanowna mich bereits gründlichst vergessen hatte, hegte ich nicht den geringsten Zweifel.
An sich ist es ja ein Phänomen, wie diese Omas, die sich nie von ihren ewigen Seifenopern losreißen und ihre Türen mit unter Kunstleder verborgenem Styropor schallisolieren, es schaffen, jedes Klingeln an der Nachbarstür mitzubekommen. Obendrein pflegen sie natürlich in die Poliklinik zu pilgern und den Ärzten vorzujammern, wie schlecht sie hören!
Im Fahrstuhl drückte ich den Knopf für den achten Stock. Auf Natalja im Treppenhaus neben dem Müllschlucker zu warten, schien mir zu riskant, denn bestimmt würde jemand mit einem Eimer oder zum Rauchen herauskommen. Deshalb kam mir der achte Stock gerade recht: In einer Wohnung wohnte ein vergreister Opa, der nirgendwo allein hinging, die beiden anderen hatten vielköpfige Familien orientalischer Gastarbeiter gemietet, die niemals auf die Idee kämen, die Miliz zu rufen. Früher hatten mich diese stillen Orientalen - mochten sie nun Tadschiken oder Usbeken sein - geärgert, die zu zehnt in einer Wohnung hausten. Nein, persönlich war ich nie mit ihnen aneinandergeraten, versuchten sie doch immer, unbemerkt in ihre Wohnungen zu schlüpfen, in ihr Körbchen zu huschen, dabei wie Kakerlaken das Licht scheuend. Es handelte sich schlicht um alltäglichen Chauvinismus.
Jetzt freute ich mich über die stillen Nachbarn aus dem obersten Stockwerk. So saß ich denn neben dem Müllschlucker, rauchte, schaute durchs Fenster nach unten, auf den Weg zum Hauseingang. Es dämmerte zwar bereits, doch die Lampe über der Eingangstür spendete helles Licht, und ich würde Natalja rechtzeitig ausmachen.
Einige Tadschiken kamen nach oben und verschwanden in ihren Wohnungen, wobei sie so taten, als bemerkten sie mich gar nicht. Bedächtig zerknüllte ich die Zigarettenschachtel.
Ein feiner, leiser Regen setzte ein, wie ich es im Herbst sogar mag. Er erinnert uns gleichsam daran, dass der Sommer vorüber ist. Fast im selben Moment funkelte unten ein bunter Schirm auf.
Vielleicht hatte ich ihn gestern in meiner Wohnung gesehen, inmitten all der anderen fremden Sachen. Vielleicht aber auch nicht. Jedenfalls spürte ich gleich: Da kam Natalja.
In meinem Bauch breitete sich Kälte aus, meine Beine schienen sich in Watte verwandelt zu haben. Unter Aufbietung aller Kräfte zwang ich mich, zum Fahrstuhl zu gehen und den Knopf zu drücken. Irgendwo weiter unten schlug eine Tür zu, doch der Fahrstuhl kam bereits hoch in den achten Stock. Ich betrat ihn, verzichtete allerdings darauf, den Knopf fürs Parterre zu betätigen.
Das übernahm Natalja für mich. Brav zuckelte der Aufzug nach unten.
Es ist nicht ganz einfach, zum Verbrecher zu werden, wenn man ein Vierteljahrhundert lang ehrlich und rechtschaffen gelebt hat.
Außerdem wollte ich auf gar keinen Fall als Schwerverbrecher im Gefängnis landen.
Aus der Innentasche meiner Jacke zog ich das Messer hervor, das ich vor zwei Stunden an einem Kiosk neben dem Metroausgang gekauft hatte. Ein billiges chinesisches Imitat irgendeines bekannten Markenprodukts. Sei’s drum. Mir kam es einzig und allein auf den furchterregenden Anblick an, den es bot, die lange schmale Klinge mit den gierigen Zähnen und der Blutrinne. Wenn in dem Kiosk überzeugend wirkende Spielzeugpistolen verkauft worden wären, hätte ich eine von denen erworben.
Denn unter gar keinen Umständen wollte ich ins Gefängnis wandern.
Die Fahrstuhltür öffnete sich zischend, und die unansehnliche Natalja trat in die Kabine. Nein, sie trat nicht ein, sie kletterte, ein Bein übertrieben hochziehend, hinein. Doch kaum sah sie mich, riss sie die Augen auf und wollte zurückweichen.
Ich packte die Frau bei der Schulter und zog sie hinein. Schon im nächsten Moment drückte ich ihr das Messer an den Hals, eine Bewegung, die mir so natürlich gelang, als hätte ich mich mein Lebtag als wahnsinniger Vergewaltiger durchgeschlagen, der in Fahrstühlen auf Beutezug ging.
»Ich schreie«, warnte Natalja mich mit einem Blick auf das Messer.
»Und warum tust du das dann nicht?«, fragte ich. Der zusammengeklappte Schirm bohrte sich mir in den Fuß. Krampfhaft klammerte sich Natalja an ihm fest. In der anderen Hand hielt sie eine Einkaufstüte.
»Lassen Sie mich los! Ich weiß ja nicht mal, wer Sie sind!«, verlangte die Frau mit erhobener Stimme. »Lassen Sie mich los!«