Ich drückte den Knopf für den fünften Stock.
»Du lügst. Du weißt genau, wer ich bin. Und das heißt ...«
Ihre Augen huschten über mein Gesicht. Sie befeuchtete sich die Lippen. »Sie sind ja verrückt geworden«, meinte sie mit einem bedächtigem Kopfschütteln. »Dafür wird man Sie verurteilen. Ist Ihnen klar, was man im Lager mit einem Vergewaltiger macht?«
»Du bist viel zu gelassen, Natalja«, erwiderte ich. Und erst in dem Moment, da ich diese Worte aussprach, wurde mir klar, wie sehr sie zutrafen. Sie war in der Tat viel zu gelassen für eine Frau, der man gerade ein Messer an die Kehle hielt - unabhängig davon, ob ich nun ein Verrückter oder der Kerl war, den sie gestern Abend übers Ohr gehauen hatte.
»Sie sind kein Mörder. Sie werden mir nichts antun.«
»Wollen wir die Probe aufs Exempel machen?«, schlug ich vor. »Sie haben mir alles genommen. Meine Wohnung, meine Arbeit, meine Papiere. Ich habe nichts mehr zu verlieren!«
»Doch, das Leben«, antwortete sie lapidar.
»Das fällt kaum ins Gewicht.« Ich packte das Messer besser, so, dass die Spitze den Hals nahe der Schlagader berührte. »Ein Piep, und ich steche zu.«
Der Fahrstuhl hielt. Die Türen glitten auseinander.
»Ich würde dir empfehlen, dich so zu verhalten, als wären wir gute alte Freunde«, sagte ich, während ich den Arm um Nataljas Schultern legte. »Du öffnest ganz ruhig die Tür, und wir beide gehen dann in die Wohnung. Verstanden?«
Wenn ich alles richtig kalkuliert hatte und wenn Natalja nicht loszappeln und schreien würde, dann dürfte das Messer durch den Spion der Nachbartür nicht zu sehen sein. Da kämen einfach ein Mann und eine Frau, die sich umarmt hielten und es nicht mehr erwarten konnten, im Bett zu landen. Was sollte daran Besonderes sein? Außerdem entspräche es genau dem Bild, das dieses Luder von klimakterischer Nachbarin sehen wollte.
Natalja fing nicht an zu zappeln.
Sie schloss auf, wir gingen hinein. Mit dem Fuß kickte ich hinter mir die Tür zu und tastete auf der Suche nach dem Lichtschalter an der Wand lang. Das Rechteck des Küchenfensters zeichnete sich in der sterbenden Dämmerung ab. Im Zimmer bellte Cashew Alarm. Es war eiskalt. Hatte man die Heizung etwa noch nicht angestellt?
»Der Lichtschalter ist ziemlich weit unten«, erklärte Natalja verächtlich. »Wenn du den Arm hängen lässt, in der Höhe.«
»Ach nee? Hätte ich das vielleicht vergessen haben sollen?«, grummelte ich.
Das Licht ging an. Ich sah mich im Zimmer um. Auf dem Sofa lag mein Hund, sonst war niemand da.
»Und weiter?«, fragte Natalja. Sie bog den Kopf leicht weg, um Abstand zwischen sich und die Messerschneide zu bringen. »Machst du gleich kurzen Prozess mit mir oder gibt’s die Leiche erst zum Dessert?«
Cashew sprang vom Sofa. Er kam in den Flur geschossen, wollte schon mit dem Schwanz wedeln, erstarrte dann jedoch, zwischen Flucht und Gekläff schwankend.
»Du bist zu gelassen«, wiederholte ich die Worte wie eine Beschwörungsformel. Es war das Einzige, was ich als Beweis vorzubringen vermochte, während ich in dieser fremden, mir unbekannten Wohnung stand. »Ich kann dir nichts nachweisen, Natalja. Aber ich bin mir sicher, dass du hinter alldem steckst.«
Die Frau schnaubte. »Wollen wir uns hier die Beine in den Bauch stehen?«
»Gehen wir in die Küche«, befahl ich.
Wir gingen in die Küche, wo ich die Gardinen zuzog. Cashew folgte uns, noch immer wachsam, wenn auch ohne zu bellen.
»Setz dich!« Ich schubste Natalja auf einen Hocker. Anschließend holte ich Klebeband aus meiner Tasche.
»Du musst zu viele Actionfilme gesehen haben«, warf Natalja mir verächtlich an den Kopf.
Dennoch leistete sie keinen Widerstand, sondern streckte freiwillig die Hände aus, die ich mit Klebeband umwickelte. Anschließend fesselte ich sie an den Hocker. Tödliche Stille senkte sich herab, eine grauenvolle Stille, denn selbst auf der Straße schienen keine Autos zu fahren, keine Besoffenen entlangzutorkeln, ja, nicht einmal die Haustür ging.
»Hast du dich jetzt beruhigt?«, fragte Natalja kalt, als ich das Klebeband beiseite legte und mich auf den anderen Hocker setzte. »Verrätst du mir eventuell, was du eigentlich vorhast? Soll ich die Wohnung auf dich überschreiben? Das könnte schwierig werden ...«
Ich hörte ihr nicht zu. Aufmerksam inspizierte ich die Küche. Acht Quadratmeter hier, im Zimmer zwanzig, plus zehn für Bad, Toilette, Flur, kurzum nicht allzu viel. Wenn man einiges an Kraft und Mitteln aufwandte, könnte man tatsächlich allem innerhalb von acht Stunden einen bis zur Unkenntlichkeit veränderten neuen Anstrich geben.
Einen neuen Anstrich ja, aber nicht gründlich renovieren.
Wunder gibt es nicht.
Ich musste einfach Spuren meiner Wohnung in dieser fremden Behausung entdecken.
Was sollte ich mir als Erstes vornehmen?
Die Kacheln.
Ich stocherte mit dem Messer an einer Fliese herum. Okay, die war in Ordnung, eine echte Kachel, keine aufgeklebte farbige Folie. Die Fugen zwischen den Fliesen ... Seltsam! Sie waren trocken. Vielleicht war das der alte Kleber. Oder ein schnelltrocknender.
Natalja brach in schallendes Gelächter aus.
»Soll ich dir auch noch den Mund verkleben?«, fragte ich. »Wäre kein Problem.«
»Polk nur überall herum«, meinte die Frau gutmütig. »Danach werde ich dich zwingen, alles zu renovieren.«
Die Tapete.
Ganz unten schnitt ich an einer unauffälligen Stelle ein kleines Stück ein und riss es heraus. Darunter prangte die nackte Wand. Hinweise auf die alte Tapete entdeckte ich nicht. Ob sie die abgerissen hatten? Möglich wäre das natürlich.
»Du Idiot«, zischte Natalja.
Ich setzte mich auf den Boden, um ohne viel Federlesens das Linoleum mitten in der Küche überkreuz aufzuschlitzen. Cashew kam an, beschnupperte das Loch im Bodenbelag - doch auf altes Linoleum stieß er nicht. Schließlich knurrte er mich an und zog wieder ab.
»Überleg doch mal selbst: Wenn tatsächlich sämtliche Unterlagen wie durch Zauberei ausgetauscht worden sind, wenn alle deine Freunde dich vergessen, was hoffst du dann hier zu finden?« Natalja kicherte. »Spuren einer Renovierung?«
Ich streckte die Hand nach Cashew aus. Der wich zurück. »Ich weiß es selbst nicht«, antwortete ich. »Aber meine Freunde habe ich mit keinem Wort erwähnt.«
Natalja hüllte sich in Schweigen.
Kopfschüttelnd sah ich ihr in die Augen. »Du hast dich verplappert. Jetzt weiß ich hundertprozentig, dass du in der Sache mit drinsteckst. Nur wie, ist mir noch unklar.«
»Und weiter?« Ihre Stimme blieb völlig gelassen. »Folterst du mich jetzt? Oder bringst du mich um? Du bist hier nicht in der Taiga, mein Guter. Dich halten hier alle für einen Verrückten. Ohne Ausweis, ohne Vergangenheit. Du bist in eine fremde Wohnung eingebrochen und hast die Besitzerin umgebracht. Ist die Todesstrafe bei uns nun schon abgeschafft oder nicht?«
»Ich glaube, sie ist abgeschafft.«
»Fünfzehn Jahre Lager sind auch kein Zuckerschlecken. Na, wie würde dir das gefallen?« Natalja gönnte sich ein triumphierendes Lächeln. »Nimm mir die Fesseln ab, Kirill. Dann setzen wir uns wie vernünftige Menschen zusammen, kochen einen Tee und reden offen über alles.«
Am liebsten hätte ich ihr eine gesemmelt. Und es sollte mir jetzt bitte schön niemand mit dem Spruch kommen, es zieme sich nicht, eine Frau zu schlagen. Bei einer wie dieser bleibt dir ja gar nichts anderes übrig!
Nur würde das nichts bringen. Natalja würde weder hysterisch werden, noch ihre perfiden Pläne zugeben.
Anspucken könnte ich sie, wenn’s sein muss, sogar mitten ins Gesicht. Und dann gehen. Sollte sie doch selbst sehen, wie sie freikam, sollte sie ruhig das Klebeband durchnagen und dabei vor Vergnügen noch kichern.
Oder sollten wir doch versuchen, miteinander zu reden?
Ich erhob mich und trat an Natalja heran. Lächelnd hob sie mir dir Hände entgegen. Ich hielt das Messer an ihre Gelenke, um das Klebeband durchzuschneiden.