Eine Zukunft als Verbrecher gehörte nicht zu meinen Plänen. Nicht einmal als idealer.
Was aber konnte ich sonst tun? Natalja war tot - und damit jede Verbindung zu meiner Vergangenheit gekappt.
Von den Schlüsseln zur Wohnung meiner Eltern abgesehen.
Während ich aus dem Tordurchgang auf den Gehsteig trat, drehte ich das Schlüsselbund in der Hand. Und als mir einer der Metallschlüssel zwischen den Fingern zerbrach, wunderte mich das nicht im Geringsten.
Das war zu erwarten gewesen.
Sechs
Supermärkte sind für kinderreiche Familien konzipiert. Supermärkte, die rund um die Uhr geöffnet sind, für Misanthropen.
Kein normaler Mensch begibt sich mitten in der Nacht zum Einkaufen in ein riesiges Shoppingzentrum. Die Flasche Wodka zur Verlängerung des Besäufnisses kriegt man in einem kleinen Laden an der Metro leichter. Wer um zwei Uhr nachts einen Einkaufswagen vollpackt, der träumt davon, auf einer einsamen Insel zu leben.
Ich stand vor dem Regal mit Milchprodukten und musterte die endlosen Joghurtreihen. Der Appetit war mir vergangen, außerdem gab es keinen Ort, an den ich meine Einkäufe bringen könnte. Doch ich musste mir meinen Platz in der Zivilisation bewahren, und zwar inmitten ihrer vulgärsten, nämlich materiellen Erscheinungsform. Fressalien und Schnaps, Heimelektronik, billige Klamotten. Leise Musik aus unsichtbaren Lautsprechern. Wenige Kunden, die lautlos durch das Geschäft trotteten.
Ein junger Mann belud einen Wagen mit Milchpackungen und Eierkartons. Was das wohl für einer war? Ein verrückter Omelettvertilger? Der Manager des Restaurants ›Milch und Eier‹? Der Entdecker einer neuen Wunderdiät?
Und wer war dieser schlicht gekleidete Mann, der so konzentriert die Zeitschriften für teure Immobilien studierte? Ein exzentrischer Millionär, der ein Anwesen in der Rubljowka suchte, diesem Idyll der Neureichen westlich von Moskau? Ein armer Architekt, der nicht den Anschluss an die neusten Entwicklungen im Bereich des Designs verlieren wollte? Ein Masochist, der erpicht auf einen Einblick in das Leben der Durchsetzungsfähigen dieser Welt war?
Dagegen warf das Pärchen, das zwei Flaschen Sekt, einen Kasten Konfekt und an der Kasse ein Päckchen Gummis kaufte, keine Fragen auf. Nur der begleitende Kauf einer Rolle Klopapier nahm sich in ihrem Korb komisch und fehl am Platz aus.
Als Erstes besorgte ich mir ein neues Aufladegerät fürs Handy - als ob mir auch die nötige Steckdose zur Verfügung stünde. Ferner legte ich eine Flasche billigen Kognaks aus Dagestan in meinen Wagen. Nach kurzer Überlegung fügte ich eine Tafel Schokolade sowie eine Flasche Mineralwasser hinzu. Ich könnte die ganze Nacht in diesem Einkaufsparadies zubringen, der Objektschützer würde mir vermutlich keine Aufmerksamkeit schenken. In der integrierten kleinen Cafeteria gab es eine Toilette, die ich schon aufgesucht hatte, um mir gründlich die Blutspritzer von den Händen zu waschen. Doch welchen Sinn hätte es hierzubleiben? Viel einfacher wäre es, ein Bänkchen vor dem Supermarkt mit Beschlag zu belegen und sämtlichen Problemen auf die traditionelle russische Weise den Kampf anzusagen ...
Ich konnte nirgendwo hingehen. Niemanden anrufen. Nicht einmal meine Eltern. Sie hatten keinen Sohn namens Kirill mehr, da hegte ich keinen Zweifel.
Langsam bewegte ich mich auf die Kasse zu. Meine Kreditkarte war noch intakt, nutzte mir ohne meinen Ausweis jedoch gar nichts. Immerhin hatte sich mein Bargeld noch nicht in Luft aufgelöst. Wenn das nicht Bände sprach: Entgegen allen geflügelten Worten stellte sich das Geld als zuverlässigster Freund heraus!
Während ich die Scheine zählte, klingelte das Handy.
Heutzutage, wo ein Mobiltelefon mit jeder denkbaren Musik - von Beethoven bis Umaturman - loslegte, nahm sich nichts so originell aus wie ein schlichtes »Dring, dring«. Es hört sich wie damals in den alten Telefonen an, als es noch keine Mikrochips gab und nur ein kleiner Hammer auf die Klingelschellen einschlug.
Ich holte das Handy heraus und schaute aufs Display. »Nummer unbekannt.«
Im Grunde besagte diese Mitteilung überhaupt nichts. Da musste mich keinesfalls der Präsident oder ein anderes hohes Tier anrufen, dessen Nummer normale Sterbliche nicht wissen sollen. Die Anzeige konnte einfach versagt haben.
»Hallo«, meldete ich mich.
»Kirill.«
Das war nicht als Frage intoniert, sondern eher als Bestätigung. Eine kräftige Männerstimme, die in Maßen machtvoll und zudem wohlwollend klang.
»Ja.«
»Merk dir den Weg! Metro Alexejewskaja. Wenn du aus der Metro rauskommst, sofort nach links. Die Treppe runter. Dort verläuft ein Pfad zwischen den Häusern.«
»Wer ist denn da?«, rief ich aus. »Was wollen Sie von mir?«
»Merk dir den Weg!«
»Ich gehe nirgendwo hin ...«
»Wie du willst.«
Mein unsichtbarer Gesprächspartner hüllte sich in Schweigen.
»Hallo?«, brachte ich schüchtern heraus.
»Merk dir den Weg! Metro Alexejewskaja ...«
Ich strich die Segel. »Nennen Sie mir doch bitte einfach die Adresse!«
»Merk dir den Weg!«
Ich wüsste nicht zu sagen, welchen Verlauf dieses Gespräch genommen hätte, wenn ich stehen geblieben wäre. Vielleicht hätte ich Widerstand geleistet, mich geweigert, weiß Gott wohin zu fahren. Doch ich lief einfach immer weiter - vorbei an der Kassiererin, wie mir dann auffiel. Gleichmütig sah die junge Frau durch mich hindurch.
Ich machte einen weiteren Schritt, mit dem ich den Einkaufswagen durch die Alarmanlage schob. Diese heulte los. Die Kassiererin zuckte zusammen und heftete den Blick auf mich.
»Sie sollten nicht schlafen«, ermahnte ich sie, während ich den Wagen zurückzog und meine Einkäufe aufs Band legte. Danach wandte ich mich noch einmal meinem Gesprächspartner zu. »Warten Sie bitte kurz. Ich stelle das Aufnahmegerät ein.«
Nur mit großer Mühe gelang es mir, ein Auto anzuhalten. Entweder wollte mitten in der Nacht und bei dem abermals losplatternden kalten Regen niemand einen Fahrgast mitnehmen, oder man hatte inzwischen ganz aufgehört, mich wahrzunehmen. Ging ich vom Verhalten der Kassiererin im Supermarkt aus, traf Letzteres zu.
Schließlich hielt ein alter Shiguli an, zur Abwechslung mal mit einem russischen Fahrer. Der Wunsch, sich etwas Geld zuzuverdienen, so dachte ich bei mir, überwindet jede Teufelei.
Mit den letzten einhundertundfünfzig Rubeln gelangte ich zur Metrostation Alexejewskaja. Ich nahm die Unterführung unter dem Prospekt Mira, die selbst um zwei Uhr nachts recht belebt war. Ein paar leicht bekleidete und grell geschminkte Frauen drängten sich in einem kleinen Grüppchen zusammen. Die Menschen, die mit den letzten Zügen gekommen waren, eilten nach Hause. Ich marschierte auf die Station zu. Der Eingang war bereits geschlossen, vereinzelt tröpfelten jedoch noch immer Menschen heraus.
Die Treppe hinab und zwischen den Häusern ...
Je weiter ich mich von der Metro entfernte, desto einsamer wurde es. Selbst an warmen Sommerabenden sind nur wenige Menschen um drei Uhr nachts unterwegs. Was sollte man da in einer kalten, verregneten Herbstnacht erwarten?!
Im Gehen holte ich immer wieder das Handy heraus, um die Aufzeichnung anzuhören. Meine Fähigkeit, mich in der Stadt zurechtzufinden, hatte ich nie sonderlich hoch eingeschätzt, aber die Wegbeschreibung erwies sich als erstaunlich klar. Links das Gebäude der Miliz, an ihm gehen wir vorbei, dann biegen wir ...
Was für ein verrückter Tag!
Noch heute Morgen hatte ich an eine vernünftige Erklärung der Ereignisse geglaubt. Am Abend hatte ich dann einsehen müssen, dass sich die Situation nicht auf das Werk gewöhnlicher Schurken zurückführen ließ.
Dann hatte die mutmaßliche Hochstaplerin ihrem Leben ein Ende gesetzt. Ich war von den völlig zu Recht empörten Bürgern und unseren tapferen Ordnungshütern zusammengeschlagen worden - nur um danach wieder freigelassen zu werden.