Mich hatte Gott weiß wer angerufen, jetzt lief ich mitten in der Nacht sonst wohin.
Machte ich mich damit vollends zum Idioten?
Die nächste Portion von Orientierungshinweisen führte mich zu einem lang gestreckten Stalinbau. Falls ich es richtig verstanden hatte, sollte dahinter ein kleiner Bahnhof einer kaum noch genutzten Eisenbahnstrecke liegen. Mein letzter Anhaltspunkt.
Bemerkenswerterweise empfand ich überhaupt keine Angst. Verprügelt hatte man mich heute bereits, und mich nach dem ganzen Aufwand, den man bereits betrieben hatte, umzubringen wäre einfach dumm. Denn obwohl ich mich selbst sehr liebte, war mir durchaus klar, dass weder mein Leben noch mein Besitz solche Anstrengungen wert waren.
Insofern weckte das Ganze eher meine Neugier.
Und am meisten ärgerte ich mich über den Regen, der mit neuer Kraft eingesetzt hatte und jetzt eisig kalt herunterprasselte.
Nachdem ich das Haus umrundet und den Bahnhof erreicht hatte, waren meine Schuhe völlig durchnässt, während meine Jacke triefte und schwer an mir hing und die Jeans meine Beine wie kalte Kompressen umspannte.
Was konnte mich hier schon Gutes erwarten? Das war nicht mal ein richtiger Bahnhof, sondern nur ein Haltepunkt. Der winzige Fahrkartenschalter war geschlossen, über seiner Tür schimmerte matt ein Lämpchen. Außerdem gab es noch zwei kleine Geschäfte, beide grell beleuchtet. Das eine brüstete sich damit, rund um die Uhr geöffnet zu haben, doch die Tür war verschlossen, und hinter der Glasscheibe hing ein Schild: ›15 Minuten Pause‹.
Ein letztes Mal spielte ich die Aufnahme ab und presste mir das Handy gegen das Ohr.
»Stell dich mit dem Gesicht zum Laden, der vierundzwanzig Stunden geöffnet hat. Wende dich nach rechts. Geh dreißig Schritte«, teilte mir eine unbekannte höfliche Stimme mit.
Ich stellte mich hin, wendete mich nach rechts und ging los - und fand mich in einem Streifen spärlichen Waldes wieder, der den Bahndamm entlang wuchs. An meinen Sohlen pappte aufgeweichter Lehmboden, von den nackten Zweigen tropfte es kaskadengleich herab. In der Dunkelheit zeichnete sich ein kleiner Ziegelturm ab. An Eisenbahnstrecken gibt es immer etliche solcher alten Wassertürme. Vermutlich hatte man sie noch zur Zeit der Dampflokomotiven gebaut und aus ihnen die riesigen Kessel gespeist.
An diesem Turm wies weißer Ziegelstein sogar die Jahreszahl aus: 1978. Dampflokomotiven fuhren da schon nicht mehr. Allerdings hatte mir mal ein Freund erzählt, bis heute stünden Dampflokomotiven im Depot, prophylaktisch, da es im Krieg oder bei vergleichbaren Katastrophen kein zuverlässigeres Transportmittel gebe.
»Holla!«, rief ich leise. »Wer hat mich denn hierherbestellt?«
Mir antwortete Stille. Vom Himmel rieselte kalter Regen, die rechtschaffenen Bürger schliefen in ihren Betten, die Alkoholiker und Intelligenzler tranken in den Küchen, die Obdachlosen wärmten sich, einen streunenden Hund im Arm, in Kellern und auf Dachböden.
Was normale Menschen halt so tun. Nur ich stand hier, allein, in durchweichten Hosen, auf der Suche nach Abenteuern.
Niemand antwortete mir. Niemand kam mir entgegengestürmt, um mir zu erklären, was mir da widerfuhr. Oder um mir einen Knüppel über den Schädel zu ziehen.
Ich ging zum Turm. In die solide Mauer aus rotem Ziegel war eine kleine Eisentür eingelassen. Gab es in Wassertürmen Türen? So genau hatte ich sie mir nie angesehen ... Entgegen allen Gewohnheiten sicherte diese Tür nicht einmal ein Vorhängeschloss. Es handelte sich schlicht um eine Tür mit einer metallenen Klinke in der fensterlosen Mauer. Eine Zeitlang starrte ich auf die Tür und stellte mir vor, wie ich sie öffnete und entdecke ...
Was?
Was auch immer!
Was auch immer die Kollegen des Schriftstellers Melnikow hinter Türen wie diesen bereithielten! Das Schlaraffenland. Welten, in denen muskulöse Helden ins Kriegshorn blasen, um sich mit schwerem spitzen Schwert böser Monster zu erwehren. Verschlafene Provinzstädtchen, die von erbarmungslosen Außerirdischen okkupiert werden. Einen Zugang zum Geheimlabor einer Sondereinheit. Das alte Russland in verschiedenen Stadien der Vergoldung, je nachdem, wie beschlagen der Autor in der Geschichte war. »Wäre ich Cholopow, wären Sie in unterirdische Katakomben geraten ...«, vermeinte ich förmlich die muntere Stimme Melnikows zu hören.
In meinem einen Schuh platschte das Wasser. Ohne wirkliche Überzeugung zog ich an der Klinke.
Und erstarrte.
Was erwartest du wohl, wenn du im kalten Herbstregen die Metallklinke eines verlassenen Gebäudes anfasst?
Eben. Nassen Rost, eisiges Metall, überall Dreck, etwas durch und durch Ungemütliches. Und genauso erging es mir.
Aber gleichzeitig ...
Es war ein Gefühl, als käme ich im Winter nach Hause, wo ich in andere Sachen schlüpfte, ein altes, abgetragenes Hemd und Hosen, die du unterwegs nicht mehr trägst, die aber bequem sind, in denen du dich wohlfühlst; wo ich mir einen großen Becher starken heißen Tees einschenkte und ein neues Buch meines Lieblingsschriftstellers aufschlug. Wo ich einige Seiten las und befriedigt zur Kenntnis nahm, wie viele Seiten mir noch bevorstanden.
Wärme, Ruhe und die Vorfreude auf etwas Gutes...
Ich riss die Hand von der Türklinke. Meine Finger überzog feuchter, rostiger Schmutz.
Das Gefühl von Wärme verflüchtigte sich allerdings nicht.
Ebenso wenig wie der Vorgeschmack eines Festtags.
Als ich die Tür zu mir zog, ließ sie sich so leicht öffnen, als seien die Scharniere kürzlich geschmiert worden. Ich trat in die Dunkelheit. Eine Sekunde blieb ich zögernd stehen.
Hier war niemand. Das wusste ich so sicher, als hätte ich das gesamte Gebäude aufmerksam durchsucht.
Mit einer Bewegung, die mir vertraut war, als käme ich nach Hause, tastete ich mit der linken Hand an der Wand lang, fand den Lichtschalter und drückte darauf. Das Licht ging an.
Vor mir lag ein geräumiges fünfeckiges Zimmer. In jeder Wand, so bemerkte ich, war eine Tür eingelassen. Alles erstrahlte in Sauberkeit, Spuren von hier nächtigenden Obdachlosen oder von Teenagerpartys entdeckte ich nicht. Die Ziegelwände waren unverputzt, der Betonfußboden eben, von der niedrigen Decke hingen, schirmlos, schlicht am nackten Kabel befestigt, einige Glühbirnen. In der Mitte des Raums strebte eine Leiter senkrecht nach oben zur Decke, direkt zu einer offen stehenden Luke.
Das hier war keine Wohnung.
Eher eine Flugzeughalle oder eine Garage.
Bestimmt aber kein Wasserturm.
Etwas Mysteriöses.
Ich machte die Tür hinter mir zu. Als ich einen Riegel entdeckte, legte ich ihn kurzerhand vor. Anschließend ging ich von einer Wand zur nächsten, um an den anderen Türen zu rütteln. Sie alle waren verschlossen, mit einem Riegel von innen und allem Anschein nach auch von außen.
Bei Zehnjährigen rufen solche Gebäude Begeisterung hervor. Warum sonst liebten Kinder es so, auf Baustellen zu spielen, sehr zum Entsetzen ihrer Eltern und zum gerechten Verdruss der Arbeiter? Ein Erwachsener vermag ihnen jedoch nichts abzugewinnen.
Gleichwohl wich das behagliche Gefühl, der Eindruck, ich gehöre hierher, nicht von mir. Ich ertappte mich dabei, wie ich in hausherrlicher Manier missbilligend auf die Dreckspuren guckte, die meine Füße hinterlassen hatten.
Gut, sah ich mir also mal den ersten Stock an.
Ich kraxelte die Leiter hoch, wobei meine Schuhe immer wieder auf den unbequemen, aus Röhren zusammengeschweißten Sprossen abglitten. Im ersten Stock hörte die Leiter zwar noch nicht auf, aber die Luke in den zweiten Stock war verschlossen und widersetzte sich all meinen Kraftanstrengungen. Der erste Stock stellte sich als leicht verkleinerte Kopie des Erdgeschosses heraus, nur gab es hier anstelle der Türen dicht mit eisernen Läden versperrte Fenster. Als ich den Schalter fand und Licht machte, entdeckte ich zudem Möbel, genauer zwei Stühle, einen Tisch sowie ein Holzbett mit Matratze, Kissen und Decke, aber ohne Bettzeug. All das sah sauber und neu aus, als käme es direkt aus dem Geschäft. Die Möbel waren schlicht, wirkten selbst gezimmert: glatt gehobelte Bretter, fest eingedrehte Schrauben. Die Augen erfreut das nicht, aber stabil ist so etwas.