Grinsend legte ich die Zollbestimmungen beiseite.
Sieben
Bereits in früher Kindheit, kaum dass ich meinen ersten Actionfilm gesehen, meinen ersten Krimi gelesen hatte, war ich zu der Überzeugung gelangt, es sei höchst schuftig, Menschen zu bestehlen, wohingegen es moralisch mehr als vertretbar sei, Banken oder Konzerne um ihr Geld zu bringen. Woher diese seltsamen Moralvorstellungen bei mir rührten, weiß ich nicht. Aber es ist etwas dran. Später traf ich sogar in Büchern wiederholt auf diese Sichtweise. Und auch im Leben. Denn einen Taschendieb möchte das Volk im Prinzip ja am liebsten auf der Stelle umbringen, aber einen geschickten Betrüger, der das Land um eine Milliarde erleichtert, duldet, ja, bewundert es sogar.
Wie auch immer, jedenfalls beschloss ich, das nächste größere Geschäft zu beklauen. Ein solches fand sich zehn Minuten zu Fuß von den Gleisen entfernt.
Zunächst wollte ich nur meine Lebensmittelvorräte aufstocken. Ich schlenderte durch den Supermarkt und lud mir den Wagen voll, mit Konserven, Räucherwurst, Zwieback, Selters und Saft, zwei weiteren Flaschen Kognak, diesmal teurem armenischen. Ich schätzte, die ganze Ware käme auf zwei-, dreitausend Rubel - zu wenig, als dass dem Personal deshalb ernsthafte Unannehmlichkeiten drohten.
Mit einem strahlenden Lächeln in Richtung Kassiererin schob ich den Einkaufswagen an der Kasse vorbei. Eine elektronische Sicherung gab es hier nicht, dazu war der Laden zu klein. Das Geheule blieb mir also erspart.
»Bürger!«, rief mir die Frau von der Kasse verärgert und zugleich irritiert hinterher.
Ich wartete kurz ab, bevor ich mich umdrehte. »Ja?«
Die Kassiererin, eine grell geschminkte junge Frau, bedachte mich mit einem missbilligenden Blick. »Und wie steht’s mit dem Bezahlen?«
In meiner Brust schlug mein Herz Alarm. »Wie bitte?«, gab ich mich dennoch aufgeräumt.
»Wolodja!«, rief die Kassiererin.
Prompt gesellte sich ein Mann vom Sicherheitsdienst zu uns.
»Der will nicht bezahlen!«
Ihren Augen entnahm ich keinerlei Hinweis auf eine Form von Gedächtnisschwund. Im Gegenteiclass="underline" Ich hätte wetten können, dass die Frau mich in lebhafter Erinnerung behielt und es sich nicht nehmen ließe, heute Abend ihrer ganzen Familie von dem durchtriebenen Dieb zu erzählen.
»Was soll das heißen - ich will nicht?«, nahm ich ihr rasch den Wind aus den Segeln. »Ich wollte meine Einkäufe nur erst zusammenpacken.«
Eine dämlichere Ausrede hätte ich mir nicht einfallen lassen können.
»Und wer hätte die dann eingelesen?«, fragte die Frau, während sie mit dem Lesegerät für den Strichcode wie mit einem futuristischen Blaster fuchtelte. »Wie hätte ich denn den Preis der Waren ausrechnen sollen?«
»Oh, verzeihen Sie mir, ich war einfach so in Gedanken ...« Mit einem schiefen Lächeln legte ich meine Einkäufe aufs Band.
Der Wachmann schaute mich nachdenklich an. Schließlich unterbrach er die Kassiererin, die bereits das erste Produkt ans Lesegerät hielt, in ihrem Tun. »Wart mal, Tanka ... Haben Sie denn überhaupt Geld, junger Mann?«
Geld hatte ich keins. Lässig holte ich meine Kreditkarte heraus. »Sie akzeptieren doch Kreditkarten?«
»Ja.« Die Kassiererin besah sich die Karte. »Aber diese nicht«, meinte sie mit schadenfrohem Grinsen.
»Warum nicht?«
»Die gehört Ihnen nicht.«
Ich besah mir die Karte nicht einmal. »Oh«, stieß ich aus. »Ist es die von Natalja Iwanowa? Das ist meine Frau, wir haben die gleiche Bank ...«
»Fremde Karten nehme ich nicht«, verkündete die Kassiererin erleichtert.
»Da drüben gibt es einen Geldautomaten«, bemerkte der Wachmann hämisch. »Der ist heute Morgen aufgefüllt worden. Nimm dir, so viel du brauchst.«
Unter seinem unnachgiebigen Blick steuerte ich den Automaten an.
Was würde der Wachmann unternehmen, wenn ich einfach türmte? Er würde ja wohl kaum die Verfolgung aufnehmen. Auch die Miliz dürfte er vermutlich nicht holen. Dem Laden hatte ich keinen Schaden zugefügt, und dass ich nicht meine eigene Karte bei mir hatte, war nicht sein Problem.
Ich kehrte dem Wachmann den Rücken zu, schob die Karte in den Geldautomaten (der tatsächlich Natalja Iwanowa als Besitzerin auswies). Die hatten sie also auch manipuliert - womit ich im Grunde natürlich hätte rechnen müssen.
Aber ob sie auch die PIN-Nummer verändert hatten?
Und hatte die Bank die Karte der Toten schon gesperrt?
Langsam tippte ich die Zahlen 7739 ein. Dann bestätigte ich die Nummer.
Auf dem Bildschirm erschienen verschiedene Beträge zur Auswahl, die ich abheben konnte.
Erleichtert klickerte ich fünftausend Rubel an. Das überlegte ich mir jedoch gleich wieder und gab neuntausendsiebenhundert ein, fast alles, was noch auf der Karte drauf war.
Gleichmütig knisterte der Geldautomat mit den Scheinen und spuckte druckfrische Fünfhunderter und leicht zerknitterte Hunderter aus.
Damit kehrte ich zur Kasse zurück, das Geld demonstrativ in der Hand haltend. Der Wachmann trat mit unverhohlener Enttäuschung zur Seite. Schweigend packte die Kassiererin meine Einkäufe ein, ich bezahlte und hatte den Supermarkt schon im nächsten Moment verlassen. Draußen drehte ich mich noch einmal um: Die Kassiererin und der Wachmann sahen mir nach und unterhielten sich über etwas.
So ein Mist!
Noch gestern hatte man mich einfach ignoriert! Wo war meine Fähigkeit, völlig unbemerkt zu bleiben, hin? Ein Sehender im Land der Blinden war ich gewesen. Der Unsichtbare, der sich keine Sorgen darüber machen musste, ob er nackt und barfuß unterwegs war.
Und jetzt das.
Eine zarte Hoffnung räkelte sich unversehens in mir. Ich setzte mich auf eine Bank gegenüber dem Supermarkt und stellte die Einkaufstüten neben mich. Dann holte ich mein Handy heraus.
Freunde oder meine Eltern?
Meine Eltern.
Es läutete. Einmal. Noch einmal. Ein drittes Mal.
»Hallo!«, erklang durch das Handy die fröhliche Stimme meines Vaters. »Wer ist da?«
Ich schluckte einen Kloß herunter, der sich in meinem Hals gebildet hatte. »Ich bin’s, Kirill«, antwortete ich.
»Ach, hallöchen!«, erwiderte mein Vater. Noch bevor ich frohlockte, schob er allerdings hinterher: »Kirill Andrejewitsch?«
»Nein, Kirill Danilowitsch.«
»Äh ... ja?«
»Ich bin dein Sohn!«, schrie ich ins Handy.
Die Pause dehnte sich einige Sekunden. »Das ist ein dummer Scherz ...«, sagte mein Vater nach einer Weile sehr unsicher.
»Ich bin dein Sohn«, wiederholte ich.
»Wie alt sind Sie?«, fragte mein Vater mit gesenkter Stimme.
»Sechsundzwanzig«, antwortete ich ungeachtet all meiner Irritation.
Täuschte ich mich oder schwang in der Stimme meines Vaters wirklich Erleichterung mit?
»Sie sollten sich diese Scherze verkneifen, junger Mann! Sie sind dumm und in keiner Weise witzig.«
Durch das Handy klang das Tuten, das mir das Ende des Gesprächs signalisierte. Betäubt wählte ich erneut, doch mein Vater hatte sein Handy offensichtlich abgeschaltet.
Und jetzt? Das Rad der Zeit ließ sich nicht zurückdrehen ... Weshalb aber hatte sich mein Vater nach meinem Alter erkundigt?
Nachdem ich kurz darüber gegrübelt hatte, fiel endlich der Groschen. Unwillkürlich kroch ein Grinsen auf mein Gesicht. Oho, Papa! Wer hätte das gedacht! Da könnte ich also noch einen Bruder haben, einen älteren oder jüngeren ...
Wie sollte ich mich allerdings darüber freuen, wenn ich selbst gar nicht mehr existierte?
Die Tür des Supermarkts ging auf, und der Wachmann trat heraus, um eine zu rauchen. Sobald er mich erblickte, schlich sich Misstrauen in seinen Blick.
Nein, auf eine neuerliche Begegnung mit der Miliz konnte ich verzichten. Dieses Mal würden sie mich nicht laufen lassen.