Ich schnappte mir meine Tüten und machte mich auf den Rückweg, zurück zu meinem Turm. Wenn er inzwischen verschwunden wäre oder sich in einen stinknormalen dreckigen Wasserturm verwandelt hätte, hätte mich das auch nicht erstaunt. Doch der Turm stand immer noch an Ort und Stelle, die Tür öffnete sich ohne Weiteres, im Innern war ebenfalls alles unverändert: die Wendeltreppe, die robusten Möbel im ersten Stock. Mineralwasser und Kognak fanden sich nach wie vor auf dem Tisch. Während ich meine Einkäufe auspackte, fiel mir prompt auf, dass ich vergessen hatte, mir wenigstens Plastikgeschirr und Besteck zu besorgen. Nun musste ich die Wurst abnagen. Das hinderte mich freilich nicht daran, mir ein Frühstück aus Wurst und Zwieback zuzubereiten, dazu Mineralwasser und anschließend ein Schlückchen Kognak zu trinken. Danach stellte ich mich ein Weilchen an das Fenster, das in die fremde Welt hinausging.
Schnee. Ein Gebäude aus rotem Ziegelstein. Eine hohe Sonne, auch wenn sich die Wolken schon zusammenzogen, fast, als wollte es wieder anfangen zu schneien.
Natürlich würde ich diese Welt erkunden müssen. Ich musste wenigstens etwas Licht in das Dunkel bringen. Aber als Allererstes brauchte ich warme Kleidung - und bei meinen finanziellen Möglichkeiten sollte ich die besser auf dem Markt kaufen.
Mein morgendlicher Frohsinn löste sich wie Rauch auf.
Das stimmte doch alles hinten und vorne nicht! Wenn es wirklich andere Welten gab, dann mussten sie Monster und schöne Prinzessinnen bevölkern. Erstere galt es zu töten, Letztere zu retten. Hier gab es jedoch nichts außer einer abgelegenen Gasse und verlassenen Gebäuden!
Eine Zeitlang starrte ich mürrisch zum Fenster hinaus. »Bringt nichts, hier rumzusitzen«, ermahnte ich mich selbst. »Alle Antworten sind da draußen zu finden. Dazu noch Monster und Prinzessinnen ...«
Selbstsicherheit hörte ich aus meiner Stimme nicht heraus. Trotzdem fasste ich mir ein Herz und verließ das Haus - in Richtung Moskau.
Am Ende konnte ich dann doch auf den Besuch des Marktes verzichten. Ich erinnerte mich an ein Geschäft in der Nähe der Metrostation ›Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft‹, das konfiszierte Imitate von Markenartikeln, nicht verkaufte Reste aus Modekollektionen und andere Waren zu verdächtig niedrigen Preisen vertrieb. Dort erstand ich eine warme Jacke, die arbeitseifrige Chinesen genäht hatten, eine Strickmütze unbekannter Herkunft (das Etikett »Design of Italia« überzeugte mich in keiner Weise, sondern schürte ganz im Gegenteil meine Zweifel) und Winterstiefel, die sich durch einen unwiderlegbaren Vorteil hervortaten: Sie waren trocken.
Möglicherweise fand manch einer sogar Gefallen an ihrer bemerkenswerten hellgrünen Farbe.
Meine Errungenschaften in einer großen Tüte verpackt, für die diese geschäftstüchtigen Vertreiber dubioser Produkte sich erdreisteten, mir fünf Rubel abzuknöpfen, verließ ich den Laden. Draußen klingelte prompt mein Handy.
»Ja?«, meldete ich mich.
»Kirill?«, klang es durchs Handy.
Mir wurde warm ums Herz. »Ja! Kotja! Hallo!«
»Ähäm ...« Kotja hatte zweifelsohne nicht damit gerechnet, erkannt zu werden. »Wie heißt du mit Nachnamen?«
»Maximow.«
»Hm. Stimmt. Sag mal, vor zwei Tagen haben wir beide da ...«
»... Kognak getrunken«, ergänzte ich müde. »Alles klar. Du erinnerst dich an rein gar nichts, bist aber wieder auf deine Notiz gestoßen? Was macht der alte Filou, der Erzieher im Fache der Leibesertüchtigung? Hat er der Achtklässlerin beigebracht, im Spagat zu sitzen? Guck mal aufs Fensterbrett, da stehen zwei leere Flaschen. Ein Ararat ...«
»Dann stimmt das also alles?«, fragte Kotja mit brechender Stimme.
»Was hast du denn gedacht?«
»Dass Hacker am Werk sind ... sich Zugang zu meinem Computer verschafft und das geschrieben haben ...«
O ja, man musste schon Kotja sein, um an solche Hacker zu glauben.
»Verlange bitte keine Beweise von mir«, sagte ich müde. »Gestern sind wir zu deinem Bekannten gegangen, dem Schriftsteller. Danach hast du mich vergessen. Innerhalb von zehn Sekunden.«
»Und wo bist du jetzt?«, erkundigte sich Kotja nach kurzem Schweigen.
Ich zögerte. »Weshalb willst du das wissen?«
»Also ... mir ist mulmig. Das alles ist so seltsam ... Kannst du nicht herkommen?«
»Und womit soll das enden?«, fragte ich leicht amüsiert. »Ich komme. Ich werde dir des Langen und Breiten darlegen, dass wir uns kennen. Wir leeren zwei Flaschen. Gegen Morgen wirst du wieder nüchtern und glaubst mir kein Wort mehr. Weißt du was? Komm du besser hierher.«
»Wohin denn?«
»Zum Bahnhof Moskau-3. Das ist noch in der Stadt, nicht weit von der Metrostation Alexejewskaja ...«
»Das finde ich. Ich guck’s mir vorher auf der Karte an.« Kotja hatte anscheinend eine Entscheidung getroffen. In einer Stunde ... nein, in anderthalb bin ich da. Äh ... brauchst du was?«
»Nein, vielen Dank. Ich warte am Bahnhof neben dem Laden, der rund um die Uhr auf hat, auf dich. Wenn uns noch was fehlt, kaufen wir es gleich da. Allerdings«, konnte ich mir nicht verkneifen, »artet es bereits in Quartalssäuferei aus, wenn wir uns den dritten Tag hintereinander betrinken.«
»Und wie erkenne ich dich?«, wollte Kotja hilflos wissen.
»Ich werde dich erkennen.«
Nachdem ich das Telefon wieder weggesteckt hatte, schoss mir der Gedanke durch den Kopf, dass Kotja und ich gut beraten gewesen wären, uns gemeinsam zu fotografieren. Gleich am ersten Abend, als alles anfing. Dann läge jetzt ein Beweis für unsere Freundschaft vor...
Bekanntlich bringt es jedoch nicht viel, den Kopf hängen zu lassen, wenn dir klar geworden ist, dass du einen Fehler gemacht hast. Viel sinnvoller ist es, diesen Fehler nicht zu wiederholen. Deshalb kaufte ich in dem kleinen Laden für Fotobedarf in der Nähe der Metro einen Einwegfotoapparat, wie man ihn mit an den Strand nimmt. Aufgrund des nahenden Winters kostete er mich nur zweihundert Rubel. Für einen besseren Apparat wäre mir mein Geld auch zu schade gewesen - schließlich durfte ich keine Einkünfte erwarten.
Außerdem erstand ich noch ein Schweizer Taschenmesser. Dass seine Klinge kurz und nicht feststehend war, gefiel mir dabei am besten.
Obwohl ich nicht mit einem Hinterhalt rechnete, drückte ich mich vorsichtshalber in einiger Entfernung von dem Geschäft herum, auf halbem Wege zu meinem Turm. Ich kaufte mir eine Flasche Bier, die ich in aller Gemütlichkeit trank, dabei den Weg auf und ab schlendernd. Ein Mann, der auf seinen Zug wartet, und dabei ein Bierchen trinkt - was könnte es Unauffälligeres geben?
Kotja versetzte mich nicht und traf pünktlich ein. Er entstieg einem Taxi, rückte voller Tatendrang die Brille zurecht und sah sich aufmerksam um. Einige Minuten observierte ich die Umgebung, vermochte jedoch kein Kommando zu meiner Festnahme zu entdecken. Aber wer brauchte mich auch schon?
»Kotja!«, rief ich meinem einstigen Freund zu, während ich mich ihm näherte.
Kotja wirbelte herum und sah mich mit einem dermaßen quälenden Verlangen, mich wiederzuerkennen, an, dass ich befangen wurde.
»Ich bin’s«, beteuerte ich und warf die leere Flasche in einen Mülleimer. »Kirill Maximow. Dein alter ... äh ... Bekannter.«
»Ich habe dich nicht erkannt«, sagte Kotja bekümmert. Er holte einige zerknitterte Seiten eines Computerausdrucks aus seiner Tasche. Aufmerksam flog er mit den Augen über die Zeilen hinweg. Schließlich seufzte er und reichte mir die Blätter. »Stimmt alles. Wir sind per du?«
Kotja hatte es also nicht bei einem einzigen Gedächtnisprotokoll bewenden lassen. Bevor wir uns gestern anschickten, Melnikow aufzusuchen, hatte er noch ein paar Zeilen verfasst.
Gleich besuchen wir Melnikow. Er ist Fantasy- und SF-Schriftsteller. Vielleicht kann er uns einen Rat geben? Für den Fall, dass ich wieder alles vergessen sollte: Mein bedauernswerter Freund heißt Kirill Maximow. Er ist sechsundzwanzig Jahre. Er arbeitet als Manager in einer Computerfirma. Etwas größer als der Durchschnitt, normale Figur, allerdings mit kleinem Bäuchlein ...