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Ein Kellnerfunktional! Worin wohl seine Spezialität bestand?

Darin, angeschickerte Gäste im Zaum zu halten, beispielsweise?

»Aus dem Weg!« Ich versuchte, ihn zu umrunden, aber Roman kreuzte meine Bahn. Er fuchtelte mit der Hand und führte mit dem Gebaren eines Zauberkünstlers das Geschirrtuch durch die Griffe der Bierkrüge. Als er es halb durchgezogen hatte, drehte er es fest ein, eine nie gesehene Waffe, ein aus einem Handtuch gezwirbelter Strick mit zwei Bierkrügen an den Enden. In den Rand des Tuchs mussten irgendwelche Stäbe eingenäht sein - die sich nun in den Griffen spreizten und die Seidel hielten. Die Schaumflocken und Spritzer hüllten Roman in einen trüben bierigen Regenbogen. Indem er die improvisierte Bola kreisen ließ, kam er auf mich zu.

Verflucht aber auch! Auf meinen Rücken zielten zwei Dutzend Maschinenpistolen, vor mir lauerte ein Migrant aus Äthiopien, der willens war, mit seinem Arbeitswerkzeug für die neue Heimat einzustehen!

Meine Entscheidung war so überraschend und untypisch, dass selbst ich nicht gleich verstand, was ich überhaupt schrie: »Gegen wen erhebst du da die Hand? Gegen einen weißen Herrn?«

Ein umwerfender Effekt! Der schwarze Roman, offenkundig nie zuvor mit Rassismus konfrontiert, erstarrte. Seine Hand öffnete sich, und die sich mit dem Geschirrtuch drehenden Bierkrüge stiegen wie ein losgelöster Hubschrauberrotor in die Höhe. Die Einsatzkräfte, die sich jetzt ihrer Instinkte beziehungsweise der Stimulatoren bedienten, quittierten dies mit einer eindeutigen Reaktion: Sie ballerten auf den gen Himmel verschwindenden funkelnden Kreis. Langsam rieselte gläserner Staub auf uns herab, in den sich Bierspritzer und Stofffetzen mischten. Roman stand immer noch wie vom Donner gerührt da, betäubt von meinen Worten, als ich an ihm vorbeilief und hinter einer Ecke verschwand. Gerade noch rechtzeitig, denn die Maschinenpistolen feuerten erneut los, bis die Fenster des Cafés klirrten und die Kugeln in den Putz einschlugen. Diese Idioten! Da drinnen saßen Leute!

Ich raste zur Straße. Dort entdeckte ich die Kinder, die mir unter Mariannas Obhut entgegenkamen.

Wenn ich nicht gerade Roman zusammengestaucht hätte, wäre ich ihnen nicht ausgewichen. Ich wäre weitergerannt, mich im Schutze des Hauses und der schwarzen Kinder haltend. Wenn man mir dann nachschoss, wäre das nicht meine Schuld.

Und wenn diese Kinder weiß oder zumindest gemischt - schwarz, gelb und weiß - gewesen wären, wäre ich ebenfalls unbeirrt weitergelaufen.

Aber nach der Beleidigung, die ich Roman an den Kopf geworfen hatte, konnte ich nicht einfach eine Gruppe schwarzer Kinder als Deckung missbrauchen. Das wäre, als ob ich diesen verbalen Mist, der mir eben als Waffe gedient hatte, zu meiner Lebenseinstellung machte.

Abermals bog ich nach links. Unter dem MPi-Feuer ging ich das Risiko ein, einen Haken zum Wald zu schlagen, damit die einstigen Bewohner der Elfenbeinküste nicht ins Schussfeld gerieten.

Stattdessen geriet ich hinein.

Sie trafen mich, als ich das rettende Dickicht der Bäume bereits erreicht hatte. Die Kugeln prasselten gegen die Äste, Blätter und Holzstückchen segelten herab, ein verdächtiges und unangenehmes Heulen holte mich ein - und in dem Moment stieß mir etwas gegen die Schulter und löste ein weniger schmerzhaftes als vielmehr einem freundlichen Klaps gleichendes Echo aus: »Mach schon, lauf schneller!«

Und das tat ich. Meine Schulter fing zu pulsieren an, doch ich, noch immer beschleunigt, rannte weiter, der Abstand zum Denkmal wuchs, die Kugeln der MPis erreichten mich nicht mehr.

Dafür tauchten am Himmel über dem Wald zwei Hubschrauber auf. Mir blieb keine Zeit, sie näher zu betrachten, ich nahm nur die grau-grüne Armeefarbe wahr - und die beiden Feuerblumen, die sich auf der Aufhängung jedes der beiden Hubschrauber zu voller Blüte entfalteten.

Wenn das bloß keine Raketen waren!

Nein, es handelte sich um Schnellfeuer-MGs! Keine kurzläufigen Knarren, aus denen die Einsatzkräfte auf mich geballert hatten, sondern echtes Kriegsgerät. Vor mir krachte ein kleiner Baum ein, dessen Stamm die Kugeln gehäckselt hatten. Hinter mir fing jemand an zu schreien, entweder aus Angst oder weil er von einem Querschläger verletzt worden war.

Ich versuchte, noch schneller zu rennen, aber das überstieg meine Kräfte. Vermutlich wären mir die Muskeln von den Knochen gerissen, wenn ich meinen Organismus gezwungen hätte, den Befehl auszuführen.

Die zweite Kugel durchschlug mein Bein, als mich nur noch rund zehn Meter vom Turm trennten. Mein Knie zersplitterte, eine Blutfontäne schoss in die Höhe. Ich heulte vor Schmerzen auf, fiel hin und kullerte den Hang hinunter. Der Turm war nahe. Der Turm würde mich retten. Er ließ sich nur mit einer thermonuklearen Explosion vernichten.

Zwei weitere Salven gingen an mir vorbei. Die Hubschrauber hingen in der Luft und feuerten ohne Ende in meine Richtung. Ihnen kam ein dritter zu Hilfe, der es so eilig hatte, dass er bereits aus einer Entfernung von zwei Kilometern das Feuer eröffnete - mit erstaunlicher Zielsicherheit, denn einige Kugeln schlugen in das Ziegelmauerwerk über mir ein. Ich vernahm das weiche Klatschen, mit dem die flachgedrücken Bleigeschosse von der Ziegelmauer abprallten.

Mich auf alle viere hochstemmend, das verletzte Bein nachziehend, öffnete ich schon die Tür, als mich die dritte Kugel erwischte. Etwa in Gürtelhöhe, genau in der Mitte des Rückens, wo sie mir die Wirbel auseinandersprengte, Darm und Harnblase zerfetzte und den gesamten Inhalt des kleinen Beckens in einen Brei aus Blut und Scheiße verwandelte. Wie ein Feuerstrom züngelte der Schmerz die Wirbelsäule hoch, als ob irgendwo in meinem Innern sämtliche Sicherungen, die Belastung nicht mehr aushaltend, durchbrennen würden. Schlagartig verlor sich auch meine Beschleunigung: Der gemächliche Takt der MG-Salven mutierte zum Rattern einer wahnsinnigen Nähmaschine. Meine Beine ertaubten. Ich spürte nichts mehr, nur meine Hände rührten sich noch in kaum wahrnehmbarer Weise.

Auf ihnen schleppte ich mich dann auch in den Turm, eine Blutspur und Klumpen des eigenen Fleischs hinter mir zurücklassend. Mit letzter Kraft stieß ich die Tür zu, die leicht ins Schloss fiel. Ob ich den Riegel vorlegen musste? Oder diente der nur zur Zier, während der Turm aus eigener Kraft den Eingang schützte?

Ich wusste es nicht. Und ich wollte es auch gar nicht wissen. Ich konnte ihn ohnehin nicht mehr vorlegen.

Denn ich starb gerade.

Zwanzig

Jeder normale Mensch weiß, dass Schmerzen schlecht sind. Selbst eine banale Grippe bedeutet betäubenden Temperaturanstieg, Kopfschmerzen, brennende Augen, schmerzende Muskeln und ekelhaften Husten.

Man kann das Ganze, nebenbei bemerkt, aber auch von einer anderen Warte aus betrachten.

Nehmen wir als Beispiel nur mal diese Grippe.

Ein kalter, widerlicher Tag zwischen Herbst und Winter. Draußen wartet ein Brei aus Dreck, Schnee und Wasser. Der Himmel hat sich in eine einzige graue Dachschindel verwandelt. Auf der Arbeit tobt die Hölle (Variante: in der Schule steht eine Klassenarbeit an, an der Uni Festigkeitslehre). Kaum wachst du auf, wird dir voller Unbehagen klar, was für ein langer, miserabler und anstrengender Tag dir bevorsteht. Als du aufstehst, bemerkst du jedoch ein Frösteln, deine Nase ist verstopft und dein Kopf dröhnt. Nach einem kurzen Gespräch mit deiner Frau oder deiner Mutter entscheidest du dich, Fieber zu messen.

Siebenunddreißig fünf! Oho! Erhöhte Temperatur! Der gesunde Menschenverstand lässt dich die Temperatur ein zweites Mal messen. Siebenunddreißig sieben!

Alles klar, eine Grippe. Freilich haben Ärzte dafür die Bezeichnung »starke respiratorische Virusinfektion« parat, da keine Grippeepidemie ausgerufen wurde, wovon man wiederum aus finanziellen Erwägungen seitens des Staats Abstand genommen hatte. Das spielt indes keine Rolle, denn die Behandlung ist so oder so dieselbe. Mit Mühe kommst du telefonisch endlich in der Poliklinik durch, danach rufst du auf der Arbeit an (wenn du noch zu jung bist, einer Arbeit nachzugehen, dann setzt sich die Frau Mama mit der Schule in Verbindung), und beide Male teilst du, indem du unwillkürlich die Stimme senkst und ein Maximum an Leid in sie legst, mit, dich habe die Grippe erwischt. Daraufhin sucht dich eine überanstrengte Ärztin auf, die, ohne sich die Schuhe auszuziehen, an dein zerwühltes Bett tritt, dich oberflächlich abhört, aufs Fieberthermometer blickt und dir ein paar rhetorische Fragen stellt. Eine Stunde später sitzt du, in einen warmen Bademantel gemummelt und mit dem Mitgefühl deiner Lieben bedacht, im Sessel vorm Fernseher und siehst dir einen alten Action- oder Zeichentrickfilm an. In regelmäßigen Abständen serviert dir jemand heißen Tee mit Honig, Zitrone und Marmelade. Du wirst gefragt, welches Essen dein leidender Organismus wohl aufzunehmen geneigt sei. Eine kühle Hand legt sich dir zärtlich auf die Stirn. Jemand eilt für dich in die Apotheke und besorgt dir Aspirin (»Als Pulver oder in Tablettenform?«), Vitamine in farbenfrohen Schächtelchen und als Zugabe noch einen ruhigen, dahinplätschernden Krimi von Rex Stout. Du guckst dir die Zeichentrickfilme zu Ende an, nimmst deine Medizin, schenkst deiner Frau (oder Mutter) das Lächeln eines vor der Schießscharte im Bunker des Feindes sterbenden Soldaten und schlüpfst ins Bett - um etwas über den faulen Fettwanst von Detektiv und seinen umtriebigen, schlankeren Assistenten zu lesen. Draußen tummeln sich Niedertracht, Gemeinheit und Nässe, Gott probt die nächste Sintflut, durchweichte Menschen kläffen einander an und beschäftigten sich mit allerlei Unsinn.