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»Und ist dir irgendetwas klar geworden?«, wollte ich wissen. »Hast du eine Gesetzmäßigkeit entdeckt? Wer wir sind und warum gerade wir so sind?«

Illan schüttelte den Kopf. »Nein, gar nichts. Schließlich ist ... ein ehemaliges Funktional zu mir gekommen. Ein Teil seiner Fähigkeiten ist ihm noch erhalten geblieben, aber nur eine winzige Spur ... Er hat mich gewittert. Er lag im Sterben. Zei hatte versucht, ihn umzubringen, aber irgendwie hat er es geschafft zu entkommen. Er war selbst ein ehemaliger Polizist. Er hieß Petrid und war aus Antik ...«

Er hieß Petrid und war in der Welt geboren worden, die die Funktionale Antik nannten. Es war die Welt einer erstarrten Utopie, der Utopie von Morus und Campanella, jener Utopie, wo die ärmsten Bauern mindestens drei Sklaven besitzen. Und diese Welt, die bei einem Soziologen einen hysterischen Anfall auslösen konnte, existierte und entwickelte sich, wenn auch auf eine sehr eigenwillige Weise, kolonisierte Amerika und Afrika, gelangte jedoch nie nach Australien, das ruhig im ewigen Schlaf der Steinzeit vor sich hindämmerte.

Er war ein Sklave, der im Weiteren an einem geglückten Aufstand teilnahm, das freie Bürgerrecht erhielt und zu einem erfolgreichen Landbesitzer aufstieg. Mit vierzig Jahren verwandelte er sich in ein Funktional.

Fünf Jahre später ermordete er einen Zöllner und verschwand nach Kimgim, zerriss somit die Verbindung zu seiner Funktion. Man kam ihm auf die Spur, und als er sich zu Illan durchgeschlagen hatte, war er völlig verstümmelt. Illan versuchte, ihn zu retten. Sie brachte mancherlei zustande, obwohl jeder Chirurg unserer Welt ihren OP spöttisch begrinst hätte. Sie nähte die aufgerissene Leber zusammen, entfernte die verletzte Milz, denn bei einstigen Funktionalen verschwindet die Fähigkeit zur Regeneration gänzlich. Ab und an kam Petrid zu Bewusstein und unterhielt sich mit ihr. Er wusste, er würde sterben, glaubte nicht daran, dass sie ihn retten könnte, kicherte jedoch die ganze Zeit und erzählte allerlei Unsinn. Von Funktionalen, die die Kastanien aus dem Feuer holten, von Erde-1, davon, dass sie alle hinters Licht geführt würden, dass er ein Imperator oder Poet hätte sein sollen, über die Unzulänglichkeit der Welt, aller Welten, die dahinsiechten wie ein guter Baum unter der Hand eines untüchtigen Gärtners. Illan vermochte nicht zu entscheiden, ob er im Fieberwahn sprach oder tatsächlich etwas wusste. Sie arbeitete, versuchte das entschwindende Leben zu retten - und sprach mit ihm, wobei sie einerseits etwas aus Petrid herauskriegen, ihn andererseits bei Bewusstsein halten wollte.

Dann kam Zei.

Illan schrie ihn an, sie nicht bei der Arbeit zu stören. Zei zuckte nur mit den Schultern, schubste sie zur Seite, schnitt Petrid mit ihrem, Illans, Skalpell die Kehle durch und machte sich gelassen von dannen. Illan hatte versucht, ihn daran zu hindern, jedoch selbst innerhalb ihrer Funktion nichts gegen den Polizisten auszurichten vermocht. Zu töten und sich zu schlagen - das war absolut nicht ihr Metier.

Von diesem Tag an begann sie zu trainieren. Den ihr verliehenen Fähigkeiten zum Trotz erlernte Illan das Kämpfen. Sie nahm Unterricht im Faustkampf und in Karate, besuchte ein Fechtstudio und Schießstände. Das blieb nicht unentdeckt. Anfangs lachte man sie aus. Später rügte man sie dafür. Und schließlich verlangte man, sie solle das ungebührliche Verhalten aufgeben. Andernfalls würde sie zu erzieherischen Zwecken und damit sie Einsicht annehme einem Scherbengericht unterzogen, wie Felix es ausdrückte.

Es endete damit, dass Zei zu ihr kam und anfing, auf sie einzudreschen. Nein, vermutlich hatte er sie nicht töten, sondern nur ein ernstes Gespräch mit ihr führen wollen. Ihn erwartete jedoch eine Überraschung. Illan zeigte sich auf diese Wende der Ereignisse vorbereitet und lockte den Polizisten in einen Hinterhalt. Zwei Schüsse aus einer Schrotflinte mitten ins Gesicht hielten ihn auf.

»Ich habe ihn kalt erwischt«, sagte Illan. »Und vermutlich hätte ich ihn umbringen können. Er war blind, die Augen flossen aus ihm heraus, sein ganzes Gesicht hatte sich in eine blutige Suppe verwandelt. Ich hätte nur die Flinte nachladen müssen und ... Aber das brachte ich nicht fertig. Damals war ich noch eine mitleidige Närrin. Ich schoss ihm noch in die Knie, damit er mir nicht nachsetzen konnte. Dann machte ich mich davon. Ich habe die Verbindung zu meiner Funktion gekappt. Ich ging in eine Stadt, von der ich absolut sicher wusste, dass es in ihr keine Funktionale gab. Dort lebte und arbeitete ich. Hundert Kilometer von Kimgim entfernt ... Das schien mir ein ausreichender Schutz. Allerdings hatte ich nicht vor, mich ewig zu verstecken. Ich hatte Glück, denn ich bewahrte einen Jungen vor dem Tod, den Anführer einer dortigen Jugendbande. Keine schweren Jungs, sondern nur minderjährige Randalierer. Natürlich konnten sie sich früher oder später in echte Verbrecher verwandeln. Aber das ließ ich nicht zu. Ich habe ihnen von den Funktionalen erzählt. Und ich habe sie überzeugt, dass ich die Wahrheit sagte. Sie hielten es für weitaus amüsanter, gegen unverletzliche Funktionale zu kämpfen, als einander die Visage zu polieren und die Fracht aus dem Hafen zu klauen ...«

»Es tut mir sehr leid«, beteuerte ich. »Aber ihr habt mir keine andere Wahl gelassen.«

»Das ist meine Schuld«, erklärte Illan. »Ich ... ich hatte mir ihre Methode der Problemlösung zu eigen gemacht. Wir fingen an, Funktionale anzugreifen. Wir versuchten diejenigen, die die Wahrheit über Erde-1 kannten und darüber Bescheid wussten, wer die Funktionale lenkte und normale Menschen zu solchen machte, zu schnappen.«

»Wie Genosse Lenin zum Genossen Stalin gesagt hat: Enteignung und Banditentum ohne Kenntnis des Klassenkampfes werden uns nicht helfen«, bemerkte ich.

»Das hat er gesagt?«, verwunderte sich Kotja.

»Na ja ... etwas in der Art hat er vermutlich schon gesagt. Der kommunistischen Mythologie zufolge.«

Illan hüstelte. Die Mythen unserer Vergangenheit interessierten sie offenbar nicht.

»Erzähl mir mal von Erde-1«, bat sie. »Du wurdest angegriffen? Wie kam das? Und warum?«

»Erde-1 ist Arkan«, antwortete ich. »Die Welt, in der die Zeit der unseren angeblich um fünfunddreißig Jahre voraus ist. Nur dass das nicht stimmt ...«

Einundzwanzig

Feinde werden viel seltener zu Freunden als Freunde zu Feinden.

Das ist ein Naturgesetz. Alles auf der Welt strebt vom Komplizierten zum Einfachen. Leben stirbt, Felsen zerfallen zu Staub, kunstvoll gemusterte Schneeflocken schmelzen und verwandeln sich in Wassertropfen. Ein Feuer verbrennt innerhalb von Minuten einen Baum, der über Jahrzehnte gewachsen ist. Eine Flasche mit Säure in den Händen eines Wahnsinnigen löst innerhalb von drei Sekunden die Farben eines Gemäldes auf, dem der Künstler sein halbes Leben gewidmet hat. Eine Kugel beendet binnen einer Sekunde das Leben eines Jungen, den seine Mutter erst neun Monate und dann noch einmal achtzehn Jahre aufgezogen hat. Ein einziges Wort verwandelt, kaum verhallt, alte Freunde in eingeschworene Feinde. Ein Asteroid, dessen Weg die Umlaufbahn eines Planeten kreuzt, löscht alles Leben aus. Die explodierende Supernova verbrennt ihre Planeten. Materie und Energie driften unerbittlich in den Raum, wo sie das lebendige und blühende Universum in ein regloses Nichts verwandeln.

Zerfall, Zerstörung, Tod - das sind höchst simple Vorgänge. Nur das Leben steht dem Einfachen gegenüber, lehnt sich gegen die Naturgesetze auf. Tod und Verwesung ignorierend, gedeihen Pflanzen und Tiere. Tod und Verwesung vergessend, leben die Menschen. Und den einfachen und bequemen Naturgesetzen zum Trotz gestalten die Menschen ihre Beziehungen, die weitaus komplizierter sind als sämtliche von den Menschen erfundenen Maschinen und Mechanismen. Was ist schon ein Verbrennungsmotor im Vergleich zum Feuer der menschlichen Leidenschaft? Welcher Fotoapparat vermöchte einen Sonnenaufgang stimmungsvoller einzufangen als der Pinsel eines Malers oder die Worte eines Dichters? Ist die Explosion einer Atombombe wirklich verheerender als die Wut Dschingis Khans und der Wahnsinn Hitlers?