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»Wir streiten uns nicht.« Illan senkte umgehend die Stimme. Wie ich zu meiner übergroßen Verwunderung feststellen musste, verfing Kotjas Charme bei ihr genauso gut wie bei einer siebzehnjährigen Studentin aus der Provinz. »Aber du musst verstehen, Kotja ...«

»Ich will aber nichts verstehen! Wenn wir uns gegenseitig anschreien, bringt das überhaupt nichts!« Stolz warf Kotja den Kopf in den Nacken und ließ seine Brille funkeln. »Wir dürfen auf gar keinen Fall etwas überstürzen.« Seiner Stimme nahm einen geradezu lehrhaften Ton an. »Wir müssen das Für und Wider einer jeden Entscheidung abwägen. Wir müssen inoffiziell mit den Funktionalen sprechen! Erst dann können wir an ein Gespräch mit Felix denken und Partisanen spielen!«

»Einverstanden«, versicherte ich erleichtert. Nichts hätte mir in dieser Situation mehr missfallen, als wenn jemand erklärt hätte, wir müssten unverzüglich militärische Aktionen einleiten. Denn dem Sterben hatte ich so gar nichts abgewinnen können.

Illan nickte widerwillig.

»Du solltest all das vergessen, Kirill«, schlug Kotja vor. »Du musst wieder zu Kräften kommen. Nimm von mir aus deine Arbeit als Zöllner wieder auf! Man rennt dir vermutlich die Tür ein, während du in fremden Welten herumstreifst!«

»Ich muss meine Umgebung kennenlernen!«, konterte ich. »Insofern ist das eine berufliche Notwendigkeit.«

»Trotzdem müssen wir eine Auszeit nehmen«, fuhr Kotja fort. »Zu Kräften kommen. Illan und ich fahren jetzt zu mir und werden uns ein paar Tage erholen. Versprichst du, bis dahin nichts zu unternehmen?«

Ich sah die beiden an und unterdrückte eine giftige Bemerkung. »Versprochen.«

Gegen Abend trudelte Kundschaft ein.

Drei Männer aus Moskau wollten durch die Bank nach Kimgim. Zwei von ihnen kannte ich nicht, der dritte war ein bekannter Fernsehjournalist. Eine junge Frau aus Moskau wollte ins Reservat. Sie zog sich splitterfasernackt aus, badete im Meer, trank direkt aus der Flasche teuren Champagner und ging wieder nach Hause.

Auf der Kimgimer Seite gaben sich die Besucher ebenfalls die Klinke in die Hand. Ein älteres Ehepaar besuchte Moskau, wobei es sich höflich bei mir erkundigte, welches Kino in der Nähe ich empfehlen könnte. Ich nannte ihnen das Kosmos an der Metrostation ›Errungenschaften‹. Ein schüchterner, gebildet wirkender junger Mann - wobei sich mir im Zusammenhang mit Kimgim das Wort ›aristokratisch‹ aufdrängte - wollte nach Scheremetjewo-2. Mir schoss der Gedanke durch den Kopf, dass der Ausdruck, man habe einen Menschen getroffen, der nicht von dieser Welt sei, weitaus zutreffender war, als die Menschen, die ihn gebrauchten, ahnten.

Aus Nirwana und Arkan kam natürlich niemand. Einen Moment lang rechnete ich mit Wassilissa. Ich hatte sogar das unerschütterliche Gefühl, sie grüble gerade darüber nach, ob sie zu mir kommen sollte oder nicht. Dann legte sich das Vorgefühl, sie statte mir einen Besuch ab, jedoch wieder.

Sie musste es sich anders überlegt haben.

In Moskau fing es an zu regnen, in Kimgim setzte ein Schneesturm ein. Ich stellte mir meine leere und traurige Wohnung vor. Die Moskauer Straßen, durch die die letzten Bürger nach Hause eilten. Die gemütlichen Gehöfte Kimgims und das Plätschern der kalten Wellen, in denen sich die gigantischen Kraken verbargen.

Ob ich doch zu Felix gehen sollte? Nicht um mit ihm zu reden, sondern einfach um etwas zu essen und zu trinken ... Nein, lieber nicht. Ich würde es nicht aushalten. Ich würde ein Gespräch anfangen.

Allerdings stand mir noch eine weitere Möglichkeit offen, an einem angenehmen Ort in interessanter Gesellschaft zu speisen ... Mit einem Anflug von Schadenfreude kramte ich die Visitenkarte des Politikers Dima heraus und wählte die Nummer.

»Ja?« Als er - überraschenderweise - selbst an den Apparat ging, wurde mir klar, dass mir die Ehre zuteil geworden war, seine Privatnummer erhalten zu haben.

»Hier ist Kirill«, sagte ich. »Von der Zollstelle.«

Eine Pause. Dann die vorsichtige Frage: »Ist die Ware ... schon eingetroffen?«

»Ja, und bereits verzollt«, ließ ich mich voller Vergnügen auf das Verschwörerspiel ein. »Es sind aber gewisse Komplikationen aufgetreten. Insofern wäre es gut, wenn wir uns treffen könnten. Wenn möglich, in einem Restaurant.«

»Ich schicke Ihnen einen Wagen«, sagte Dima. »Sobald Sie vor die Tür kommen sollen, rufe ich an.«

Ich ging nach oben und trank ein Glas Kognak. Ich schaute auf den Turm von Ostankino, der in Arkan von Scheinwerfern angestrahlt wurde - ganz wie bei uns. Dann stand ich vor dem Fenster zum Reservat und atmete die frische Meeresluft ein. Über Nacht sollte ich ungedingt dieses Fenster auflassen.

Der Politiker rief sogar schneller zurück, als ich erwartet hatte.

»Das Auto wartet«, erklärte er. »Der Fahrer wird Ihnen meine Visitenkarte zeigen.«

Das konspirative Spiel ging weiter. Die armen Mitarbeiter der Staatssicherheit, die nicht in das Geheimnis der Funktionale eingeweiht waren. Sie würden alles daransetzen herauszubekommen, mit wem Dima sprach und wem er seinen Wagen schickte. Und reineweg gar nichts würden sie in Erfahrung bringen ...

Ich ging nach unten und trat aus dem Turm. Mit ernster Miene prüfte ich die Visitenkarte, die mir der Fahrer entgegenhielt. Von leichtem Neid erfüllt starrte ich zu ein paar jungen Leuten hinüber, die ungeachtet der Kälte und des Regens die Straße entlangliefen. Selbst wenn sie jetzt saures Bier in einem billigen Café trinken würden - sie hatten bestimmt mehr Spaß als ich. Sie wussten nicht, dass unsere Welt nur ein Experimentierfeld ist.

Wie viel angenehmer wäre es, den Spion und nicht den Verschwörer zu mimen. Ein Spion arbeitet in einem fremden Land, ein Verschwörer in seinem eigenen - das okkupiert ist.

Aber natürlich hatte ich keine andere Wahl.

Für unser Treffen hatte der Politiker ein Restaurant gewählt, das die Küche eines nicht existierenden Landes anbot: die tibetische. Die Besitzer des Restaurants teilten die diesbezügliche Position des chinesischen Herrschers indes offenkundig nicht, zierten die Räumlichkeiten doch die tibetische Flagge und andere Attribute der Staatlichkeit. Unwillkürlich schoss mir der Gedanke durch den Kopf, in dieser Wahl liege ein symbolischer Sinn.

Ein Leibwächter brachte mich in ein kleines Hinterzimmer und ging, die Tür fest hinter sich zuziehend, hinaus. Dima saß bereits am Tisch.

»Nehmen Sie doch bitte Platz.« Sein Lächeln wirkte angespannt, aber freundlich. »Bedienen Sie sich. Die tibetische Küche ist ganz exquisit. Ich empfehle Tigergarnelen im Teigmantel. Außerdem gibt es hier einen ganz unverwechselbaren Wein.«

»Tigergarnelen?« Kurz rief ich mir mein Geografielehrbuch in Erinnerung. »Wie originell. Und Trauben wachsen auch in Tibet?«

»Ich bin noch nicht da gewesen«, meinte Dima achselzuckend. »Es ist eine Mischung aus Wein und Sake. Wenn dort Trauben wachsen, dann nur in sehr geringer Menge. Essen Sie, Kirill.«

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Mir kam es zwar weniger auf das Essen als vielmehr auf die Gesellschaft an, aber die Garnelen stellten sich in der Tat als schmackhaft heraus. Vermutlich hätte sogar Felix sie gelobt ... Und der Wein, nun ja, eine gewisse Originalität musste man ihm fraglos bescheinigen. Der Politiker machte sich ebenfalls übers Essen her, schaffte es dabei jedoch, mir nebenbei von der heutigen Sitzung der Duma zu berichten, auf der seine Fraktion gegen ein volksfeindliches Gesetz Front gemacht, es am Ende aber dennoch nicht zu verhindern vermochte hatte. Mit einem mir fremden Zynismus und voller Müdigkeit sann ich darüber nach, dass die Oppositionsfraktion es sich durchaus erlauben konnte, gegen volksfeindliche Gesetze zu wettern. Im Grunde blieb keiner Fraktion in der Opposition etwas anderes übrig. Sie brauchte jedoch bloß an die Macht zu gelangen, und schon sah die Sache ganz anders aus ...