»Die fünfte Tür?« Das interessierte sie schon mehr.
»Ja. Es ist die Welt, aus der die Funktionale gekommen sind. Alle anderen Welten sind nur ihre Experimentierfelder. Was passiert, wenn wir eine theokratische Welt schaffen? Was in einer Sklavenhaltergesellschaft? Was in einer Welt mit hoch entwickelter Technik oder in einer ohne Staaten? Das wollen sie wissen. Ansonsten haben sie es aber nicht auf uns abgesehen. Insofern können wir ganz unbesorgt sein. Wir können die Erde wählen, die uns gefällt, und dorthin ziehen.«
»Das ist doch irgendwie unwürdig.« Nastja lächelte linkisch.
»Das ist dein altersbedingter Maximalismus«, befand ich. »Ein Experimentierfeld, was soll denn daran so schlimm sein? Die Freiheit ist ohnehin ein Ding der Unmöglichkeit. Irgendein kluger Kopf hat einmal gesagt, man könne nicht in einer Gesellschaft leben und gleichzeitig frei von ihr sein.«
»Das war Lenin.«
»Und recht hatte er. Robinson war auch nur so lange frei, bis Freitag aufgetaucht ist.« Ich trank einen Schluck Gin and Tonic. »Nein, natürlich hast du recht! Mich fuchst das ja selbst ohne Ende. Außerdem haben die von Erde-1 auf mich geschossen! Ich bin verwundet worden. Und wäre beinah abgekratzt.«
»Ach ja?« Nastja musterte mich skeptisch.
»Bei uns heilt alles sehr schnell. Jedenfalls habe ich mit den Dreckskerlen noch eine Rechnung zu begleichen ... Und ich habe mit Sicherheit nicht vor, ihnen in den Hintern zu kriechen. Aber wir können denen nicht den Krieg erklären. Wozu haben eure kindischen Angriffe denn geführt? Doch wohl nur dazu, dass ich diese Grünschnäbel umgebracht habe. Und selbst wenn ihr mich gekriegt hättet, oder Felix oder Zei ... oder sonst wen ... Was hättet ihr davon? Es würden doch bloß die Funktionale von Erde-1 kommen und neue Polizisten erschaffen. Sie würden euch Mores lehren. Die einen nach Nirwana schicken, die anderen ganz aus dem Verkehr ziehen.«
Mit einer kindlichen Geste rieb Nastja sich das Knie. »Also wirst du nicht an unserer Seite kämpfen?«, fragte sie.
»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Das wäre ein Kampf gegen Windmühlenflügel. Tut mir leid, da passe ich. Ich werde lieber meiner Arbeit in der Zollstelle nachgehen. Aus dem Fenster nach Erde-1 werde ich die Küchenreste kippen und denen obszöne Gesten machen - so lange, bis sie genug haben und den Turm von oben bis unten einbetonieren. Falls ... falls du willst ... kannst du zu mir ziehen.«
»Ein sehr taktvolles Angebot, mich als deine Geliebte aushalten zu lassen«, schnaubte Nastja. »Was soll das? Sehe ich etwa wie eine Nutte aus?«
»Nein. Du gefällst mir.«
»Vielen Dank für das Kompliment. Nein!«
»Was, nein?«
»Meine Antwort lautet nein! Ich habe nicht vor, wie das Kaninchen vor der Schlange zu hocken! Egal, ob Illan und ich uns durchsetzen können oder nicht, wir werden kämpfen! Besser aufrecht stehend sterben, als auf Knien leben!«
Das klang komisch, naiv, aber durch und durch aufrichtig. Ich seufzte. Es würde vermutlich nichts nützen, ihr zu widersprechen ... In dem Moment vernahm ich von der Tür: »Das sollten Sie nicht sagen, junge Frau.«
Ich hatte den Fehler wiederholt, den vor mir Nastja und Michail begangen hatten. Die Tür stand noch offen, was sich unser ungebetener Gast zunutze gemacht hatte.
Der Mann war um die vierzig und sah absolut harmlos aus. Ein korpulenter Mensch, mit einer dicken Brille und deutlicher Glatze. In seinen Händen presste er linkisch einen nassen Hut zusammen. Wann hatte ich eigentlich zuletzt einen Mann mit Hut auf unseren Straßen gesehen? Ein schlichter grauer Anzug mit Regenspritzern, schmutzbefleckte Stiefel und eine schlecht gebundene Krawatte vervollständigten das Bild. So sehen die Schullehrer unter den eingefleischten Junggesellen aus, die noch bei ihrer Mutter wohnen und ihren Schützlingen mit monotoner Stimme etwas über die Bedeutung von Basarow aus Turgenjews Väter und Söhne oder Gontscharows Oblomow herunterleiern.
Nur war der hier ein Funktional.
»Wer sind Sie nun schon wieder?«, rief Nastja aus, während sie vom Hocker sprang. »Ist hier heute Tag der offenen Tür?«
Ich stand ebenfalls auf und baute mich zwischen der Frau und dem ›Lehrer‹ auf.
»Das ist ein Polizistenfunktional«, sagte ich. »Einer von hier, aus Moskau.«
»Ganz recht, Kirill«, bestätigte der Polizist. »Entschuldigen Sie bitte vielmals, dass ich so ungefragt hereingeschneit bin ... Das ist nun einmal meine Arbeit. Dafür müssen Sie schon Verständnis haben. Ich heiße Andrej. Ich freue mich nebenbei bemerkt sehr, Sie kennenzulernen!«
»Sie hätten mich auch besuchen können«, erwiderte ich. »Der Turm an der Metrostation Alexejewskaja. Es ist rund um die Uhr geöffnet.«
»Das wird bedauerlicherweise nicht möglich sein. Es wäre ein bisschen zu weit für mich, ich müsste mich von meiner Funktion losreißen. Ich arbeite eigentlich im Südwesten, aber da man mich um Hilfe gebeten hat ...« Andrej lächelte schuldbewusst. »Ehrlich gesagt, missfällt mir die entstandene Situation in höchsten Maßen, ja, in gewisser Weise widert sie mich sogar an ...«
Ich schielte zu Nastja hinüber. Oho. Ihre Lippen zitterten. Anscheinend hatte sie kapiert!
»Was haben Sie vor?«, fragte ich.
»Ich muss die Sache mit der jungen Dame klären.« Entschuldigend breitete er die Arme aus.
»Felix hat mir versprochen, sie könne bei mir bleiben«, brachte ich wie aus der Pistole geschossen vor. »Kennen Sie Felix?«
»Nein, aber das spielt auch gar keine Rolle. Ihr Felix hat natürlich recht. Sie müssen wissen, ich persönlich habe nicht das Geringste dagegen, wenn eine schöne junge Frau mit ... mit Ihnen zusammenlebt. Man hat mich mit der Bitte hierhergeschickt, mit ihr zu reden und sie zu vernünftigerem Tun anzuhalten. Leider habe ich ihre Ansichten jedoch mitangehört. Es klang ja höchst poetisch, das mit dem Kaninchen vor der Schlange, dem Leben auf Knien ...«
»Wollen wir nicht versuchen, die Situation zu retten?« Ich lächelte ihn gutmütig an. »Gehen Sie doch einfach noch einmal vor die Tür, kommen noch einmal herein, und ich werde Nastja noch einmal dieselbe Frage stellen.«
Der Mann dachte kurz nach. Dann zuckte er die Achseln. »Warum eigentlich nicht?«, zeigte er sich begeistert. »Sie müssen wissen, mir gefällt diese Arbeit in keiner Weise! Ich bin von Beruf Historiker, eine Archivratte, wenn man so will. Ich sitze in einem staubigen Kämmerchen, blättere alte Dokumente durch und finde daran ein ungeheures Vergnügen. Ich habe übrigens eine Unzahl interessanter Entdeckungen gemacht! Allerdings gelingt mir keine einzige Veröffentlichung. In den Zeitschriften hat man mich sofort vergessen, Briefe kommen nicht mehr an, Dateien löschen sich selbst. Nun gut, Sie kennen das, unsere üblichen Probleme. Doch schert mich das nicht, da die wissenschaftliche Suche an sich mir Lohn genug ist! Diese Arbeit hingegen ist doch im Grunde für Menschen mit ganz anderer charakterlicher Veranlagung ... Dann werde ich mal!«
Und er ging hinaus.
Ich sah Nastja an.
»Was für ein Clown«, sagte Nastja leise.
»Das ist ein Polizistenfunktional«, betonte ich. »Der kann aus uns beiden Hackfleisch machen. Ist dir das klar?«
An der Tür klopfte es, worauf der Polizist erneut eintrat. Er putzte seine Brille mit dem Ärmel des Jacketts.
»Nastja!«, sagte ich laut. »Warum pfeifen wir nicht auf die selbstgefälligen Snobs von Erde-1? Gib all diese kindischen Spiele im Untergrund auf und komm mit zu mir! Ich habe das Meer vor der Tür. Und ein gutes Restaurant in der Nähe.«
Andrej strahlte, kniff halb blind die Augen zusammen und nickte. Schließlich setzte er die Brille wieder auf und sah Nastja erwartungsvoll an.
»Ich habe dir das doch schon gesagt«, sagte Nastja mit leiser Stimme. »Nein. Ich werde mich mit der Okkupation nicht abfinden.«
»Na bitte«, stieß Andrej bitter aus. Er stülpte sich den nassen Hut auf den Kopf. »Warum muss die Jugend nur immer so dumm und radikal sein? Wozu mutet man mir diesen ganzen Schmutz zu, dieses miserable Wetter, diese widerwärtigen Maßnahmen ...«