Er näherte sich Nastja - gemessenen Schrittes, die Hände an der Vorderseite seines Jacketts abwischend, als schwitze er plötzlich. Allerdings war genau das der Eindruck, den er machte: feucht und glitschig, entweder vom Regen oder vom Schweiß.
»Bleiben Sie stehen«, verlangte ich. »Andrej, hören Sie auf! Sie sind doch ein erwachsener kluger Mann! Sie redet doch nur dummes Zeug! Ich nehme sie jetzt mit, sie wird bei mir leben und zur Besinnung kommen!«
»Das kann ich nicht«, erwiderte er niedergeschlagen. »Das ist meine Funktion. Hindern Sie mich nicht, Ki...«
Er bezog von mir einen Schlag in den Magen. Im Sprung, mit dem Fuß, wie es nur die Helden in asiatischen Kampffilmen tun.
Andrej flog rückwärts zur Tür. Er strauchelte, verlor das Gleichgewicht jedoch nicht. Ich hatte mich bereits in eine Position gestellt, von der ich nicht einmal wusste, wie sie hieß. Vermutlich hatten die weisen Japaner oder Chinesen für sie einen Namen wie »besoffener Kranich«, »scheißender Bär« oder »dummes Funktional«.
»Du bist im Unrecht!«, maulte Andrej beleidigt. »Was machst du denn da? Wir müssen doch zusammenhalten! Wir sind Funktionale, wir müssen einander helfen!«
»Hau ab«, zischte ich. »Sieh zu, dass du Land gewinnst. Ich werde sie nicht ...«
Diesmal war ich es, dem die Gelegenheit, einen Satz zu beenden, versagt blieb. Die nächsten zehn Sekunden kreisten wir zwischen den Pfeilern umher, unablässig aufeinander einschlagend. Ich kriegte einige sehr heftige Schläge gegen die Brust ab, wobei mich der unangenehme Verdacht beschlich, der Polizist wolle mir die Rippen unterm Herz brechen. Im Gegenzug verwandelte sich Andrejs Brille in winzige, aus dem Gesicht herausstakende Glassplitter, während die Finger seiner rechten Hand einen in unnatürlichen Winkeln gespreizten Fächer bildeten.
Schmerzen empfanden wir anscheinend beide nicht.
Irgendwann bemerkte ich, dass wir vor einem großen französischen Fenster standen, uns gegenseitig fest bei den Armen packten und versuchten, den anderen gegen die Scheibe zu schleudern.
Glücken wollte das keinem von uns beiden.
»Das ist eine vertrackte Situation, Kollege!«, bemerkte Andrej blinzelnd. Aus seinem rechten Lid ragte ein Splitter seiner Brille heraus, der, wie ich schaudernd begriff, bei jeder Bewegung über den Augapfel kratzte. »Ich bin sehr weit von meiner Funktion entfernt und deshalb entschieden schwächer, als ich sein sollte. Hier kann keiner gewinnen, wir haben ein Patt!«
»Hau ab«, befahl ich. »Hau ab und lass uns in Ruhe.«
»Aber das kann ich nicht, das musst du doch verstehen!«
»Ich muss überhaupt nichts.«
Kummer spiegelte sich auf Andrejs Gesicht wider. »Dann werden wir also so lange kämpfen, bis sich ein Dritter einmischt. Stimmt’s?«
»Ja«, sagte Nastja hinter Andrej und zog ihm mit voller Wucht einen gusseisernen Wok über den Kopf.
Ein Wok aus Gusseisen (von mir auch aus Aluminium) ist keine Teflonpfanne mit patentiertem mehrschichtigem Boden. Ein Wok ist die Geheimwaffe der Asiaten, der zuverlässige Kriegskamerad der Mongolen und Tataren, ein unersetzlicher Gefährte sowohl des anspruchslosen Touristen als auch des städtischen Liebhabers von gutem Essen. Er braucht keinen Spritzschutz dubiosen Ursprungs und keine Spülmittel, die das Fett selbst in kaltem Wasser lösen, keine Topfkratzer und Bürsten. Bei einem häufig gebrauchten Wok setzen sich Rückstände in sämtlichen Poren ab und bilden eine glatte, glänzende schwarze Oberfläche, die alle Aromen der Pilaws, des fritierten Fleischs, der Hammeleintöpfe und aller Köstlichkeiten bewahren, die der Wok in seinem Leben bereits aufgenommen hat. In einem guten alten Stück gerät das einfachste Essen zu einem Mahl aus Tausendundeiner Nacht. Der Topf selbst wird mit den Jahren schwerer und schwerer, die Oberfläche trägt die anthrazitfarbenen Spuren der Geschichte.
Dieser Wok blickte auf eine ruhmreiche Geschichte zurück und war randvoll mit Pilaw. Und so, wie er frei und krümelnd vom Sesamöl dunkelrot gefärbten Reis, golden funkelnde Möhrenschnitzel, appetitanregende aromatische Knoblauchknollen und fette Brocken Hammelfleisch in der Luft verteilte, musste es ein sehr gutes Pilaw sein. Was sage ich da? Es musste ein Pilaw gewesen sein, wie es im Buche steht.
Andrej verdrehte die Augen, seine Knie gaben nach, und er sackte zu Boden.
Ich sah Nastja an, sie mich.
»Ich kenne einen Schwarzen«, sagte ich. »Der liebt es, mit Bierkrügen zu schmeißen. Du solltest mal gegen ihn antreten ... im Ring.«
»Habe ich dir geholfen?«, erkundigte sich Nastja.
»Und ob«, bestätigte ich. »Angefangen in dem Moment, als du gesagt hast, du würdest dich nicht mit der Okkupation abfinden.«
»Ich wollte nicht lügen«, beharrte Nastja. Sie drehte sich um und stellte den Wok auf dem Tresen ab. Ich gab Andrej einen leichten Schubs. Der Historiker lag reglos da. Dann ging ich ebenfalls zum Tresen und langte mit der Hand in den Topf.
An einem Eckchen kratzte ich mir vom Boden die Reste des Reises und der Mohrrüben ab, drückte sie mit allen fünf Fingern zusammen, formte daraus ein Kügelchen und bugsierte das Pilaw, mir die Fingerspitzen am noch heißen Fleisch verbrennend, in den Mund. Ich verschluckte mich am Aroma und an meiner Spucke, die wer weiß woher kam und meinen ganzen Mund ertränkte. »Außerordentlich schmackhaft!«, brachte ich mit einigen Schwierigkeiten heraus. Voller Bedauern betrachtete ich die überall auf dem Boden verteilten Pilawreste. »Wo hast du gelernt, so ein gutes Pilaw zu kochen?«
»Mein Vater ist in einem Dorf in Usbekistan aufgewachsen. Die weißbärtigen Alten dort haben ihm beigebracht, Pilaw zuzubereiten.«
»Und mit Woks loszuprügeln? Ist das eine nationale usbekische Kampfsportart?«
»Eine nationale weibliche.«
Ich sah auf die Uhr. »Ich gebe dir drei Minuten, um deine Sachen zu packen. Dann verdünnisieren wir uns.«
»Und wenn ich nicht will?«
»Dann gehe ich allein«, sagte ich ehrlich. »Dass wir den Polizisten ausgeschaltet haben, ist ein Wunder. Ein Zufall.«
Auf jedes weitere Wortgefecht verzichtete Nastja. Sie öffnete die Tür des Kleiderschranks, zog eine kleine Leinentasche heraus und machte sich daran, ein paar Sachen hineinzustopfen. Diese Tätigkeit unterbrach sie kurz, um mir ein Knäuel Nylonschnur zuzuwerfen. »Nimm das!«
»Wozu?«
Nastja zögerte. »Willst du ihn etwa ein für alle Mal erledigen?«, fragte sie schließlich.
Ich musterte den unglückseligen Historiker. Ehrlich gesagt, hegte ich ihm gegenüber keinerlei Groll. Noch vor zwei Minuten hätte ich ihm kurzerhand das Genick gebrochen, sofern sich mir die Gelegenheit dazu geboten hätte. Aber jetzt ...
Ich hockte mich hin und fesselte Andrejs Hände mit der Schnur auf dem Rücken. Anschließend band ich ihm damit auch noch die Beine zusammen. Nylon ist für diesen Zweck nicht gerade das optimale Material, da es zu glatt ist. Ich gab mir jedoch alle Mühe, die Knoten möglichst festzuziehen.
»Ich bin so weit«, verkündete Nastja. »Nein, warte ...«
Ohne viel Federlesens ließ sie den Hausmantel fallen und schlüpfte in eine Jeanshose. Schnaubend sah ich demonstrativ auf die Uhr. »Du hast noch zwanzig Sekunden.«
»Ein normaler Mann hätte mich jetzt gebeten, mir alle Zeit der Welt zu nehmen«, parierte Nastja.
»Ich bin ein normaler Mann. Aber ich will leben.«
Während ich bei Nastja gewesen war, hatte sich das Wetter unvorstellbar verschlechtert. Ein kalter Regen platterte, obendrein wehte starker Wind. Wundersamerweise brach dennoch ein Lichtstreif durch die Wolken, in dem ein riesiger Vollmond prangte. Es waren kaum noch Menschen unterwegs, selbst in der Ferne, am Eingang zur Metro, war niemand mehr zu sehen. Die Autofahrer vergaßen unter diesen Umständen endgültig jede Form der Höflichkeit und bretterten durch die Pfützen, ohne die Geschwindigkeit zu drosseln.