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»Halt eine Taxe an!«, befahl ich Nastja. »Sag, du willst zur Alexejewskaja. Schau nicht aufs Geld.«

»Hast du kein Auto?«, wunderte sie sich. Sie versuchte, den Regenschirm aufzuspannen, der jedoch von den Windböen sofort umgestülpt wurde.

»Ich kann noch nicht mal fahren! Und was ist mit dir? Hast du etwa auch keins?«

»Mischa hat mir immer einen Wagen geschickt.«

»Es ist ja nicht verboten, ein Luxusleben zu führen ...« Ich sah mich um. Gut, noch war alles ruhig. Neue Polizisten waren nirgends zu sehen.

Ein alter Shiguli hielt an. Der Fahrer erkundigte sich nicht einmal, wohin wir wollten und wie viel wir zahlen würden, sondern brummte nur: »Steigen Sie ein!«, um gleich darauf davonzurasen. Ich hatte auf dem Beifahrersitz Platz genommen und beäugte ihn argwöhnisch. Und wenn er ...

Nein, er schien ein Mensch zu sein. Ein ganz normaler, angespannter und müder Mann in mittleren Jahren.

»Dass es Sie nicht weggespült hat«, meinte er. »Die Himmelsschleusen sind auf. Gegen Morgen soll es noch Schnee geben, schauen Sie doch mal, wie rot der Himmel ist ... Und Sie, Mädchen, könnte man direkt auswringen! Sie sind nicht für dieses Wetter angezogen.«

»Hmm«, antwortete Nastja munter. »Das hat sich so ergeben, wir mussten von einer Party fliehen ...«

»Von einer Sekunde auf die nächste?«

»So ein Sturkopf hat sich betrunken und kriegte dann seine Finger einfach nicht mehr von mir weg«, erklärte Nastja. »Petja hat ihn mit Müh und Not zur Vernunft gebracht ... aber die Stimmung war danach natürlich den Bach runter.«

Schon wieder dieses Verschwörerspiel ... Ich murmelte etwas Tapferes, das zum heldenhaften Petja passte.

»Ich habe schon gesehen, dass Ihnen ein Veilchen wächst«, sagte der Fahrer mit kurzem Blick auf mich.

Ich rieb mir über die Schläfe.

»Nein, links. Spüren Sie das denn nicht? Das gibt einen schönen blauen Fleck. Haben Sie sich mit einem Boxer angelegt?«

»Sie werden lachen: mit einem Historiker.«

Der Fahrer brach tatsächlich in schallendes Gelächter aus. »Die Geschichte ist eine schreckliche Kraft. Aber dass Historiker handgreiflich werden, hört man selten. Normalerweise bewaffnen sie sich ja eher mit Feder und Stift ... Legen Sie sich ein Stück rohes Fleisch darauf, das hilft.«

»Ich werde ihm die Stelle küssen, das hilft noch besser«, versprach Nastja.

Wir tauschten im Rückspiegel einen Blick. Nastja lächelte.

Hm, nach wie vor lag doch etwas Primitives in den Beziehungen von Mann und Frau. Kaum prügelst du dich wegen einer Frau ...

»Wohin soll ich Sie denn bringen?«, fragte der Fahrer.

»Nach Hause«, antwortete ich. »Zur Metrostation Alexejewskaja ...«

Dreiundzwanzig

Will man Borges glauben, dann lassen sich alle Sujets und damit alle Geschehnisse der Welt leicht auf drei Grundmuster reduzieren: die Schatzsuche, die Belagerung oder Verteidigung einer Festung und die Rückkehr nach Hause. Einige Skeptiker ergänzen diese Liste noch um den Selbstmord, einige Pedanten erweitern sie auf ein Dutzend Sujets. Besonders Boshafte behaupten, es gäbe drei goldene Sujets, nämlich Liebe, Indianer und Neujahr. Borges hätte ihnen vermutlich kaum widersprochen, denn die Liebe ist nichts anderes als eine Schatzsuche, kriegerische Indianer und der Kampf um die Festung sind untrennbar miteinander verbunden, und womit lässt sich der Festtag des Neujahrs vergleichen? Nur mit der Rückkehr nach Hause.

In einer guten Geschichte folgen diese drei Sujets aufeinander. Odysseus begab sich auf Schatzsuche, belagerte Troja und segelte nach Hause. Iwan Zarewitsch reitet aus, die Äpfel der ewigen Jugend zu finden, plündert das Schloss des bösen Zauberers Kaschtschej und kehrt zu seinem Vater zurück. Der Wolf belauert nacheinander die Häuser der drei kleinen Schweinchen und muss mit Schimpf und Schande abziehen.

Meine Schatzsuche mündete jetzt fraglos in die Verteidigung der Festung. Nur hatte ich keine Chancen, nach Hause zurückzukehren.

Beim Turm erwartete uns niemand. Zuallererst überprüfte ich sämtliche Türen. Dann begab ich mich in den ersten Stock und schaute aus den Fenstern.

Ringsum war es still. Und menschenleer.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Nastja.

»Du hast dir ja alle Mühe gegeben ...«, konnte ich mir nicht verkneifen. »Und was hat uns das gebracht? Ich habe dir doch gleich vorgeschlagen, mit zu mir zu kommen. Nur geht jetzt eine Prügelei mit einem Polizisten auf mein Konto.«

»Auf unser.«

Ich winkte nur ab. Dann holte ich das Handy heraus und wählte Kotjas Nummer. Ich musste lange warten, was nicht erstaunlich war, schließlich ging es auf Mitternacht zu.

»Ja?«, meldete sich Kotja missmutig.

»Hier ist Kirill. Nastja ist bei mir.«

»Welche Nastja? Die, die den Zettel ...«

»Ja. Ein Polizistenfunktional hat sie beehrt. Ich habe sie da rausgehauen und mit zu mir genommen.«

»Du hast einen Polizisten geschlagen?«, begeisterte sich Kotja. »Krass!«

»Krasser geht’s gar nicht. Die können mich jeden Moment holen kommen.«

»Das ja wohl kaum«, beruhigte mich Kotja. »Die werden in einer Situation wie dieser kaum in Aktionismus verfallen, sondern sich die Sache in aller Ruhe durch den Kopf gehen lassen.«

»Sie könnten auch zu dir kommen.«

»Was habe ich denn damit zu tun?«

»Du gewährst Illan Asyl. Ich glaube, Illan interessiert sie nicht weniger als Nastja.«

Kotja schnaubte. »Und was sollen wir deiner Ansicht nach jetzt tun?«, wollte er wissen. »Abhauen?«

»Vielleicht. Oder kommt zu mir. Hier im Turm dürfte ich euch vermutlich verteidigen können. Selbst gegen einen Polizisten. Frag Illan, sie kennt sich in diesen Dingen besser aus.«

»Moment ...«

Eine Zeitlang herrschte Stille in der Leitung. Das Handy mit der Schulter ans Ohr pressend, wartete ich und schaute zu Nastja hinüber. Sie stand vorm Fenster, das nach Arkan hinausging. Als spüre sie meinen Blick, drehte sie sich um. »Ist das wirklich Erde-1?«

»Ja.«

»Es ist schön. Da hinten ist ein Fernsehturm ...«

»Das ist der von Ostankino. Er ist genau wie unserer. Anscheinend hielten sie die Konstruktion für gelungen.«

»Wozu brauchen sie das alles?«, fragte Nastja plötzlich. »Wenn bei ihnen alles zum besten steht, wenn sie so mächtig sind ... Sie könnten es sich doch leisten, sich wie normale Menschen aufzuführen. Sich mit uns anfreunden, sie bräuchten uns doch nicht auszubeuten.«

Mit einem Mal begriff ich, was für ein Kind sie noch immer war. »Sich wie ein normaler Mensch zu verhalten, Nastja, das heißt andere auszubeuten. Leider.«

»Das sollte aber nicht so sein.«

»Aber es ist so.«

»Wir müssen sie unbedingt besiegen!«

»Besiegen?« Ich brach in schallendes Gelächter aus. »Dazu müssten wir andere Menschen ausbeuten. Sie in den Tod schicken. Wir müssten alle Pläne von denen aus Erde-1 durchkreuzen. Wenn du gewinnst, wirst du dich gar nicht so schnell umschauen können, wie alle ihre Plätze tauschen. Und schon bald würde wieder eine Frau von Erde-1 sagen: ›Weshalb lassen sie uns nicht leben? Das ist doch ungerecht!‹«

»Was sollen wir denn sonst tun?«, fragte Nastja leise. »Das Recht des Stärkeren gelten lassen?«

Glücklicherweise kehrte Kotja in dem Moment an den Apparat zurück und entband mich von der Notwendigkeit zu antworten.

»Kirill? Illan sagt, wir sollten jetzt lieber nicht bei dir aufkreuzen. Besser wäre es, wir würden aus Moskau verschwinden. Sie kennt ein paar Gegenden, in denen es keine Funktionale gibt und wohin die Polizisten nicht gelangen können. Wollt ihr euch uns nicht anschließen?«

»Und wie soll das gehen?«, entgegnete ich verärgert. »Du vergisst anscheinend, dass ich an den Turm gebunden bin.«