»Folglich ist es meine Schuld, nicht ihre.«
»Erstens hat sie an diesen dummen terroristischen Aktionen teilgenommen.« Zur Illustration des Gesagten bog Natalja einen Finger um. »Zweitens hat sie einer flüchtigen Verbrecherin Unterschlupf gewährt. Drittens hat sie das Versprechen gebrochen, das jeder Mensch, der etwas von den Funktionalen weiß, abgeben muss, nämlich nichts auszuplaudern und sich nicht einzumischen. Viertens hat sie auf die Aufforderung zu bereuen erklärt, sie werde ihr Tun fortsetzen. Und fünftens, was am schwersten wiegt, sie hat ein Funktional angegriffen! Ein Polizistenfunktional im Dienst!«
Geräuschvoll schlug Natalja mit der offenen Hand auf den Tisch.
»Das wird nicht wieder vorkommen«, versprach ich. »Sie wird dem Terrorismus abschwören und niemandem mehr Unterschlupf bieten. Und sie wird bereuen. Und sich bei Andrej Petrowitsch entschuldigen.«
»Wir sind hier nicht im Kindergarten, Kirill.« Natalja schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, ich werde es nie wieder tun - und dann geht es weiter mit den Faxen. Nein, Kirill, Nastjas Schicksal ist bereits besiegelt.«
Ich spürte, wie ich allmählich ausrastete. Ich legte meine Hand auf ihre und drückte sie auf den Tisch.
»Nastja wird nirgendwohin gehen«, sagte ich. »Schluss. Aus. Basta. Ende.«
Natalja runzelte die Stirn. Ihr Gesicht sah jetzt noch hässlicher aus. »Ich habe schon vermutet, dass bei diesem Punkt die größten Schwierigkeiten auftreten ... Was willst du mit dem abgelegten Flittchen eines kleinen Geschäftsmannes? Was ist, fehlt es dir an Weibern? Du brauchst dir doch bloß eine auszusuchen! Erfahrene Nutten, hochanständige Gattinnen und Mütter, naive Minderjährige - wirf einen Blick aus dem Fenster, da wackeln ganze Herden mit dem Hintern!«
»Ich habe meine Wahl getroffen.«
»Ihr Schicksal ist bereits besiegelt«, sagte Natalja. Mit einem Mal ging mir auf, dass sie das ›bereits‹ betont hatte.
»Nastja!«, schrie ich aufspringend. »Nastja!«
Niemand antwortete mir.
»Aber ich werde dir entgegenkommen«, fuhr Natalja fort, als habe sie mein Verhalten gar nicht bemerkt. »Sie wird von hier aus nirgendwo mehr hingehen.«
Ich stürmte zur Treppe, preschte einen Stock höher. Die Küchentür stand offen.
Nastja lag neben dem Herd auf dem Fußboden. In der Pfanne brannten Spiegeleier an. Ein Winkel meines Bewusstseins registrierte, dass Nastja sie wie für ein Kind zubereitet hatte, als lustiges Gesicht, mit Eigelbaugen und einem Speckstreifen als lachendem Mund. Der metallene Heber, mit dem Nastja die Eier auf den Teller bugsieren wollte, war in einer Ecke der Küche gelandet.
Als ich mich über Nastja beugte, gab es in ihren Augen noch Leben. Leben und Furcht, wie sie immer untrennbar miteinander verbunden sind. Mir schien, sie würde mich erkennen. Ich glaubte sogar, sie freue sich darüber. Doch schon im nächsten Moment trat der Tod in ihre Augen und vertrieb die Furcht.
Ich schüttelte den Kopf.
Nein!
Wie konnte das sein? Das hier war mein Haus. Meine Burg. Selbst die leicht beschränkten Angestellten der dummen Alten Weiß hatten sich binnen weniger Minuten regeneriert. Ich war Zöllner. Fast ein Soldat. Ich hatte es überstanden, als man aus meinem Bauch Hackfleisch gemacht hatte. Und hier ließ sich nicht einmal eine Wunde erkennen!
»Nastja!«, schrie ich. »Du darfst nicht sterben.«
Ich schüttelte sie an den Schultern, obwohl ich genau wusste, dass sie bereits tot war. Nachdem ihr Herz ausgesetzt hatte, war ihr nur eine knappe Minute geblieben. Nastja war hingefallen. Der Pfannenheber, der ihr entglitten war, hatte über meinem Kopf gelärmt. Warum hatte sie nicht geschrien? Konnte sie es nicht mehr? Oder wollte sie es nicht? Sie hatte nicht losgeschrien. Aber sie hatte noch knapp eine Minute gelebt, auf mein Kommen gewartet.
»Leb!«, befahl ich. »Leb!«
Ich legte ihr die Hand auf die Brust. Ich stellte mir vor, wie sich aus meinen Fingern unsichtbare Fäden schlängelten, sich in ihr Herz bohrten ... wie der Defibrillator mit blauen Blitzen einen Stromstoß anzeigt ...
Es musste klappen.
Ja?
Aber nichts geschah.
Ihr Herz stand still, die Frau war tot. Mystik verfing hier nicht.
»Sie ist tot«, sagte Natalja. Sie stand in der Tür und betrachtete mich nachdenklich.
»Beleb sie!«, brüllte ich.
»Nein.«
»Kannst du es nicht? Oder willst du es nicht?«
»Ich will es nicht«, bekannte Natalja. »Wie ich bereits gesagt habe: Es gibt Dinge, die wir nicht verzeihen. Ein Angriff auf einen Polizisten gehört dazu. Beruhige dich. Es ist alles vorüber.«
»Ich bin die Ruhe selbst«, sagte ich mit einem Blick auf Nastja.
»Gut. Dieses Mädchen hatte schon drei Männer, obwohl sie noch nicht einmal neunzehn ist. Was willst du mit so einer? Und du bist kein Dummkopf - du willst mir doch wohl nicht weismachen, ihr hättet euch geliebt. Von Liebe kann keine Rede sein, es ging einzig und allein um Sex! Ich habe euch diese Nacht absichtlich nicht gestört, sondern dir die Gelegenheit gegeben, dich zu entspannen.«
»Weshalb bist du so ... grob?« Ich sah Natalja an.
»Damit dir klar wird, dass wir grob sein können.« Sie verengte die Augen zu Schlitzen. »Dieses Mädchen brauchen wir nicht. Aber dich würden wir gern behalten. Wenn du akzeptierst, was bisher geschehen ist, kannst du bei uns bleiben. Wenn nicht, folgst du ihr.«
»Ist das die Alternative?«
»Ja.«
Ich fuhr mit der Hand über Nastjas Gesicht, um ihr die Augen zu schließen. Ich zupfte die aus der Hose gerutschte Bluse wieder zurecht. Dann erhob ich mich. »Mir ist nicht klar, warum sie damit hausieren gegangen ist«, erklärte ich Natalja traurig. »Ich meine, dass sie lieber stehend sterben würde. Aber der Polizist hatte sich bereit erklärt, uns noch eine Chance zu geben ... Das war doch keine Lüge, oder?«
»Nein. Er hätte sie am Leben gelassen.«
»Wie unsagbar dumm das doch alles ist«, sagte ich. »All diese großen Worte und schönen Posen ... Non passeran!, Und sie bewegt sich doch!, Vaterland oder Tod!, Ich bin bereit, für meine Überzeugungen zu sterben! ... All das klingt lächerlich, sobald der echte Tod eintritt ... All das ist etwas für Kinder. Und für Erwachsene, die sie manipulieren ...«
Natalja nickte zustimmend.
»Und sie bewegt sich doch«, sagte ich. »So ist es doch, oder? Sie bewegt sich, sie kommen nicht durch, das Vaterland bleibt das Vaterland, selbst wenn der Tod zum Tod wird, und niemand ist bereit zu sterben, aber manchmal ist es leichter zu sterben, als Verrat zu üben ... Du bist ein hässliches mieses Weibsstück, das niemals jemand um deiner selbst willen geliebt hat, du bist noch nicht einmal deshalb in unsere Welt gekommen, weil du deine so liebst, sondern weil du Macht brauchst.«
Natalja schlug die Hände über dem Kopf zusammen, wie eine Lehrerin, deren Liebling zwar bei der Lösung jeder Integralgleichung glänzte, aber nicht wusste, wie viel zwei mal zwei ist. Auf ihrem Gesicht spiegelte sich offenkundig Enttäuschung wider.
»Du bist eine Kanaille«, sagte ich. »Ihr seid alle Kanaillen. Und zwar nicht, weil ihr uns klammheimlich lenkt, die Welten dreht und wendet, wie ihr wollt. Irgendjemand würde sowieso über uns herrschen, irgendjemand uns sowieso manipulieren. Und unser Unglück besteht auch nicht darin, dass ihr uns die Freiheit nehmt und einen goldenen Käfig als Ersatz anbietet. Freiheit lässt sich nicht in Quadratkilometern messen. Ich werfe euch noch nicht mal vor, dass ihr uns unsere Familien und Freunde nehmt. Schließlich erinnern wir uns noch an sie, und das ist das Wichtigste. Nein, ihr seid Kanaillen, weil ihr uns denjenigen nehmt, denen wir am Herzen liegen! Ihr lasst ihnen nicht mal die Erinnerung an uns. Aber dir reicht sogar das nicht, stimmt’s? Die Menschen sind für euch nur Figuren, die man nach Belieben auf dem Schachbrett umstellen kann, damit der eine Bauer in eine Dame verwandelt wird, während ihr den anderen vom Brett fegt, um so eure Partie durchzuziehen ...«