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Jetzt befand ich mich direkt im Turm. Der zwar mitten im Prozess der Auflösung steckte, aber noch standhielt. Hier hatte ich meine tödlichen Wunden geheilt. Nützte mir das etwas? Nein! Was kam sonst noch in Frage? Jede Nacht gestaltete sich der Turm nach meinem Geschmack um. Als ich darauf angewiesen war, platzten im Turm die Rohre. Nützte mir das etwas?

Ja.

Falls der Turm mir gehorchte.

Es entzog sich meiner Kenntnis, welche Kräfte den Turm zu seinen Mutationen zwangen. Anscheinend machte er das nur höchst ungern im Beisein von Zeugen. Jetzt jedoch lag er im Sterben.

»Du hast ... einen Zöllner ... angegriffen«, presste ich hervor. »Damit verletzt du ebenfalls ... die Gesetze der Funktionale. Ich kann ... mich verteidigen.«

Die Worte schienen Natalja zu amüsieren.

»Nur zu. Verteidige dich.«

Sie klatschte in die Hände - und in den Fenstern barsten mit traurigem Jammern die Scheiben. Sie hob den Arm, als greife sie nach etwas mir Unsichtbarem. Das sie dann energisch zu sich herunterzog.

Von der Decke rieselten weiße Farbplättchen. Direkt über mir trat die Fuge zwischen den Deckenplatten hervor.

Mir wurde schwarz vor Augen. Um meinen Schädel schien sich ein Stahlring zusammenzuziehen.

Im selben Moment brannte die am Kabel hängende Glühbirne mit blendendem Licht auf, das Glas zerfiel zu Splittern, das Kabel schlängelte sich nach unten. Mir wurde erst klar, was da vor sich ging, als die feinen Haltedrähte, zwischen denen weiß rauchend die Wolframspirale niederbrannte, sich mit der Gier einer Schlange in Natalja Iwanowas Hals bohrten.

Die Hebamme schrie auf, krümmte sich. Das Kabel sauste immer tiefer herunter, legte sich in einem Ring um sie und schnürte ihr die Kehle ab. Mit einem Ruck zuckte es nach oben - und Nataljas Beine baumelten in der Luft.

Ich stand auf. Es schüttelte mich noch, doch der schlimmste Schmerz war vorbei.

Nataljas Gesicht lief im Nu krebsrot an. Mit verzweifelter Anstrengung gelang es ihr, die Hände unter die Schlinge zu schieben und den tödlichen Druck etwas zu lindern. Den durch ihren Körper fließenden Strom schien sie nicht einmal wahrzunehmen.

»Das ist für Arkan ...«, sagte ich, den Blick auf sie gerichtet. »Die Verwandlung in ein Lasso hättest du dem schnöden Kabel wohl kaum zugetraut!«

»Hör auf!«, schrie Natalja.

Ich lachte. Ich fand das wirklich komisch. Nachdem sie Nastja umgebracht hatte, nachdem sie mich kaltblütig töten wollte, sollte ich sie laufen lassen?

»Sag: Bitte!«

»Bitte!«

»Sag: Ich werde es nie wieder tun!«

Nataljas Augen funkelten. Das Kabel zog sie höher und höher zur Decke hinauf.

»Du Idiot! Wenn ich sterbe ... eure Funktionen sind ausnahmslos mir beigeordnet! Der Turm wird so oder so einstürzen! Hunderte von Funktionalen werden zu Menschen!«

»Hervorragend!«, bemerkte ich. »Glaubst du etwa, darüber wäre ich traurig?«, fragte ich kopfschüttelnd.

»Wir erlauben dir, ein Funktional zu bleiben!«, plärrte sie.

»Verreck doch, du Tier!«, antwortete ich bloß. »Verreck, und dann werden wir wieder zu Menschen.«

»Niemand ... wird ... euch ... das ... erlauben«, krächzte Natalja. »Der Kurator ... wird diesen Fehler korrigieren ...«

Damit zog sie die Hände aus der Schlinge.

Die Deckenplatten über ihr gingen an der Fuge auseinander, ein gieriger Betonmund öffnete sich, zitternd und wartend. Die Deckenträger staken wie schiefe rostige Hauer hervor. Das Kabel züngelte in den Schlund und lieferte die Hebamme den Deckenplatten aus, die darauf lauerten, sich wieder zusammenzuschieben.

Nataljas Arme schossen nach oben und zerhackten die Luft. Sie breiteten sich aus und zerrissen etwas, zerquetschten ein für mich unsichtbares Objekt.

Der Turm stöhnte. Aus den Mauern segelten die Ziegelsteine nach innen. Der Boden bebte, Wellen brandeten über ihn hinweg. Die blendende Sonne über dem Reservat trübte sich, und vor das Fenster von Erde-17 zog sich ein undurchdringlicher grauer Schleier.

In dem Augenblick nahm ich einen Blick voller Trauer und Zärtlichkeit wahr, mit dem etwas Großes, Mächtiges und Sterbendes auf mich sah. So betrachtet ein uralter Greis, dessen Seele Mitleid und Bitternis keinen Platz mehr darbietet, die Fotografien seiner Kindheit. Explosionsartig erfasste meinen Körper ein kribbelndes Stechen, etwas straffte sich und platzte wie eine überstark gespannte Saite.

Meine Funktion starb - und brach die Verbindung zu mir ab.

Für einige sich in alle Ewigkeiten ausdehnende Sekunden zeigten sich all meine Sinne aufs Äußerste geschärft. Ich vernahm das Knacken von Nataljas Halswirbeln und das Brummen der Eisenbahn, die von der Station Sewerjanin abfuhr. Ich sah, wie der sterbenden Hebamme der Schweiß auf die Stirn trat und wie die Teleobjektive funkelten, mit denen man von jenem Turm in dem unendlich weit entfernten Ostankino Arkans den meinigen anvisierte. Der bittere Geruch der auf dem Herd verschmurgelnden Spiegeleier stieg mir ebenso in die Nase wie der Gestank des alten Fleischs, aus dem neben der Metrostation Alexejewskaja Shawarma hergestellt wurde. Ich schmeckte den salzigen Geschmack von Blut auf meinen Lippen und die saure Entladung, die durch Nataljas Körper fuhr. Ich spürte, wie mir Brösel der Deckenfarbe in staubigen Schneeflocken auf die Haare fielen und wie die Stiefel der Soldaten am Ewigen Feuer hart auf unsere Erde traten.

Und dann war da noch etwas. Etwas Betäubendes, Außerordentliches, das nicht für einen gewöhnlichen Menschen bestimmt war. Eine Art Erinnerung, jedoch mit anderem Vorzeichen. Eine Mischung aus Farben, Geräuschen, Düften, Aromen und Eindrücken.

... Sagen Sie, Dmitri, wie ist das bei Ihnen üblich ... Ich drücke mit den Händen den grauen Schleier auseinander, taste mich vor, als schwimme ich in Gallert ... Jemand tritt schwer metallen auf, Schritte hämmern ... Eine unerträgliche ätzende Bitternis frisst an meinen Lippen ... Die Last ist kaum zu tragen, ich werde sie nicht stemmen ...

Die Welt wurde unerträglich grell und beschämend winzig. Schließlich schrumpfte sie auf einen Punkt zusammen - auf mich. Mein Körper wurde schwer, ich geriet ins Schwanken.

Es erwies sich als anstrengend, wieder zum Menschen zu werden. Fast so anstrengend wie beim ersten Mal. Wenn du dich von der Heimeligkeit und Sicherheit des Mutterleibs losreißen musst, von dem schwerelosen Gleiten im dunklen warmen Nass, wenn du das erste Mal die bittere Luft mit noch ungeschickt gebrauchten Lungen einatmest, in vollem Umfang die Erdanziehungskraft spürst und gottserbärmlich vor Scham und Erstaunen aufschreist.

All meine Funktionalskräfte, all meine geliehenen Kenntnisse und Fähigkeiten, verpufften.

Der Turm erzitterte. Mit einem letzten Ruck zog das Stromkabel Natalja weiter hinein in die Lücke in der Deckenmitte, dann fuhren die Betonplatten wieder zusammen.

Etwas knackte, widerwärtig und matschig.

Noch einmal zuckten die Beine in der billigen türkischen Jeans, die sich im Nu dunkel und rot einfärbten.

Langsam stürzte der Turm ein.

Ich hechtete durch das letzte Fenster, vor dem der graue Dunst der Zwischenwelt noch nicht hing. Ohne weiter darüber nachzudenken, streckte ich die Arme nach vorn, als spränge ich von einem Brett in ein Schwimmbecken. Hinter mir bröckelten die Ziegelsteine ab, zerfielen die Deckenplatten, toste das aus den Rohren sprudelnde Wasser und knackten die berstenden Dielen.

Die verschneite, steinharte Erde sauste auf mich zu. Ich schloss die Augen.

Die Grube war anderthalb Meter tief. Die oberste Schicht bestand aus Schnee, bis zum Boden war das Loch mit faulen Blättern, feuchtem ausgebleichten Gras und abgeschnittenen Zweigen angefüllt - und eben nicht mit dem üblichen Stadtmüll. Was war das? Die Kompostgrube des hiesigen Hauswarts? Warum hatte ich sie früher noch nicht bemerkt? Und welches Wunder hatte sie praktischerweise genau unter dem Fenster entstehen lassen, aus dem ich gesprungen war?