Wunder gibt es nicht!
Ich war etwas lädiert, ein Arm von einem spitzen Ast aufgekratzt, hinter den Kragen war mir Abfall gerutscht, ich trug nur ein Hemd und Sommerhosen, außerdem war ich pitschnass, aber ich lebte. Allem zum Trotz lebte ich.
Nastja war tot.
Und Natalja Iwanowa, das Hebammenfunktional, verreckt.
Beim zweiten Mal war es mir also doch noch gelungen, sie zu töten.
Immer wieder im Schnee ausrutschend, kraxelte ich aus der Grube. Ich beäugte sie argwöhnisch. Dann stürzte ich zum Turm.
Nach wie vor stand er ein wenig abseits der Eisenbahngleise und sah ganz wie ein aufgegebener Wasserturm aus. Nur die Jahreszahl über der Tür, 1978, prangte nicht mehr dort. Dabei war das doch mein Geburtsjahr ... Das mir das nicht gleich aufgefallen war.
Spuren der Zerstörung entdeckte ich keine. Ein kleines Fenster drei Meter über dem Boden war gesprungen. Doch das fiel nicht weiter auf - in verlassenen Gebäuden sind immer ein paar Fenster entzwei.
Ich rüttelte an der verrosteten Tür, die quietschend nachgab. Im Innern herrschte Dunkelheit, nur ein schmaler Lichtstrahl drang durch ein Fenster, dem sich jetzt das durch die Tür fallende Licht zugesellte. Natürlich existierten weder Stockwerke noch Decken. Ein widerhallender hoher Raum, der von dem verrosteten Boden des Wasserspeichers erdrückt wurde. Den Fußboden bedeckten große Ziegelsteine, Glasscherben, Eisenteile undefinierbarer Bestimmung und Müll. Nur der heruntergekommenste Penner würde mit diesem Quartier vorlieb nehmen.
Nastja lag gleich hinter der Tür.
Ich hockte mich neben sie, presste mein Ohr an ihre Brust und maß ihr den Puls.
Wunder gibt es nicht.
Vielleicht, wenn sie ein Funktional wäre ... Falls sich nach Nataljas Tod wirklich wieder alle, die sie zu Funktionalen gemacht hatte, in Menschen zurückverwandelten ... Nein, auch das würde nicht klappen. Leben ist Leben, und Tod ist Tod. Ein Funktional kann mit dem Tod Versteck spielen - wenn das Dunkel besonders dicht und das Zimmer groß ist. Aber wenn er dich fängt und dir seine Knochenhand auf die Schulter klopft, dann gibt es kein Zurück.
»Verzeih mir«, sagte ich. »Du hättest in Nirwana bleiben sollen. Verzeih mir, Nastja.«
Natürlich antwortete sie mir nicht. Und es bedeutete keinen Trost, mir vor Augen zu halten, dass sie mir aller Wahrscheinlichkeit nach verziehen hätte.
Was war ich nur für ein Idiot. Kaum aufmerksamer und vorausschauender als Nastja. Ich hatte mich benommen wie ein ... Wie was? Wie ein Funktional. Ich hatte innerhalb der Grenzen gehandelt, die mir gesetzt worden waren.
Niemals hätte ich so unbedacht von einer Welt in die andere hasten dürfen. Und warum musste ich stolz alle Allianzen ablehnen und mich selbstgefällig in den Kampf stürzen? Bis zu dem Moment, an dem etwas geschah, das nicht rückgängig zu machen war, an dem Nastja starb, an dem sie mich zwingen wollten, in die Knie zu gehen - bis zu dem Moment hätte ich noch lavieren können. Diese Möglichkeit hatte ich verstreichen lassen.
Besser wäre es gewesen, an meiner Stelle hätte ein Politiker gestanden. Er hätte sich auf ein langes Spiel einzulassen gewusst ...
Selbst wenn er am Ende der Partie hätte feststellen müssen, dass er schon längst Schlagdame spielt.
Nein, die Geschichte hatte einen ganz und gar dummen Verlauf genommen. Sobald du dich auf die Regeln dieses Spiels einlässt, hast du schon verloren. Es ist wie im Casino: Du kannst auf Zahl oder Farbe setzen, auf Zero, Gerade oder Ungerade - am Ende gewinnt doch die Bank. Wenn du dich auf die Regeln ihres Spiels einlässt, wirst du einer von ihnen. Darin erschöpft sich die ganz Finesse. Wie in dem alten Roman, den ich in meiner Kindheit gelesen habe: In dem Moment, da du die Geheimsprache deines Feindes erlernst, fängst du an, in ihr zu denken. Wie der Feind zu denken. Oder wie in der noch älteren Legende: Indem du den Drachen tötest, wirst du selbst zum Drachen. Jeder, der genug Finessen beherrschte, gegen die Funktionale von Erde-1 zu gewinnen, wurde genauso wie sie. Der Traum des Politikers Dima unterschied sich durch nichts von dem, was die Bewohner von Arkan mit uns machten: Er wollte an ein Experimentierfeld herankommen, ein Übungsgelände. Natürlich nur um der hehrsten Ziele willen ...
Du hast keine Chancen zu gewinnen, wenn du als Mensch in den Kampf ziehst. Und du kannst auf den Sieg getrost verzichten, wenn du ein Funktional bist.
Du brauchst einen dritten Weg - den es nicht gibt.
Ich strich Nastja über die kalte Wange. Ich musste den Notarzt herbestellen. Aber noch nicht gleich. Zunächst musste ich verschwinden. Jetzt, wo ich wieder ein normaler Mensch war, wollte ich der Miliz nicht in die Hände fallen. Ich hätte ihnen des Langen und Breiten beweisen müssen, dass ich zufällig in dieses verlassene Gebäude geraten war und genauso zufällig die Leiche der jungen Frau entdeckt hatte. Bei der es sich im Übrigen um die Frau handelte, mit der ich die letzte Nacht verbracht hatte.
Dennoch wollte ich sie nicht so liegen lassen, auf all den kaputten Ziegelsteinen und Flaschenscherben. Mit der Schuhspitze säuberte ich eine kleinere Fläche, hob Nastja behutsam hoch und legte sie dorthin. Ich streckte ihre Arme entlang des Körpers aus.
Ihre rechte Hand war offen, die linke zur Faust geballt. Kurz zögerte ich, dann bog ich ihre Finger auseinander.
Ein funkelnder Metallring. Natürlich nicht aus Gold oder Silber. Vielleicht vernickelter Stahl. Wäre ich noch Zöllner gewesen, hätte ich die chemische Zusammensetzung, den Wert und die Höhe der Zollgebühren aus dem Ärmel schütteln können.
Ein Ring ...
Ich nahm ihn an mich und drehte ihn in den Fingern. Aus irgendeinem Grund hielt ich es für wichtig dahinterzukommen, woher er stammte. Nastja hatte am Herd gestanden ... Sie wollte die Spiegeleier aus der Pfanne nehmen ... Aber klar! Der Ring stammte vom Griff des metallenen Pfannenhebers. Solche Dinger hatte es dort an allen Arten von Besteck gegeben, an den Gabeln, Messern und Schaumlöffeln.
Warum war er erhalten geblieben?
Weil er sich in der Hand der toten Frau befunden hatte? In der Hand eines Menschen, der nicht zur Welt der Funktionale gehörte?
Ich probierte den Ring aus. Er passte so genau auf meinen Ringfinger, als hätte ich ihn bei einem Juwelier gekauft.
Dann wollte ich ihn auch tragen.
Ein letztes Mal betrachtete ich das tote Gesicht, dann erhob ich mich.
Und hörte von draußen Schritte.
»Kirill? Ist etwas nicht in Ordnung? Na, hier sieht’s ja aus!« Kotja stand in der Türfüllung und sah sich voller Befremden in dem dunklen, schmutzigen Raum um. »Wie nach einem Angriff der Anarchisten ... Hast du dich mit jemandem geprügelt? Haben die aus Arkan dich angegriffen?«
»Was machst du denn hier?«, fragte ich. »Ihr solltet doch längst weg sein.«
»Das hat mir eine innere Stimme gesagt.« Kotja breitete die Arme aus. »Ich habe gespürt, dass irgendwas nicht in Ordnung ist ... Daraufhin habe ich meine Dame in Scheremetjewo gelassen und bin zu dir ...«
In dem Moment hatten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt, und er verstummte.
»Nastja ist tot«, sagte ich. »Das ist der Stand der Dinge ...«
»Warum?«
»Natalja hat sie ermordet. Das Hebammenfunktional.«
»Das tut mir sehr leid«, brummte Kotja. »Wirklich ... Wo ist Natalja?«
Ich zuckte die Achseln. »Das letzte Mal, als ich sie sah, war Natalja von der Taille an aufwärts auf die Breite eines Stücks Karton plattgewalzt worden. Ich glaube, jetzt ist sie nirgendwo mehr. Selbst ein Funktional übersteht so was nicht.«
»Hast du sie umgebracht?«, wollte Kotja ungläubig wissen.
»Hm. Sie hat Nastja ermodert und angefangen, den Turm zu zerstören. Ich konnte Natalja auslöschen. Aber der Turm ist trotzdem gestorben.«