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»Jetzt bist du wieder ein normaler Mensch.« Das war keine Frage, sondern die Feststellung einer Tatsache.

»Ja.«

»Aber wie konntest du sie töten?«

»Das ist mein Geheimnis«, antwortete ich mysteriös. »Lass uns von hier weggehen. Nastja können wir doch nicht mehr helfen.«

Wir verließen den Turm, ich zog die Tür fest hinter uns zu, klaubte eine Handvoll lockeren Schnees vom Boden auf und wischte die hölzerne Klinke ab. Fingerabdrücke sollte ich lieber nicht hinterlassen.

»Kirill ...« Kotja sah mir in die Augen. »Wie? Schließlich ist sie eine Hebamme! Illan hat gesagt, Hebammen könnten jeden auslöschen, den sie zum Funktional gemacht haben. Dein Turm ist zerstört worden, du bist wieder zum Menschen geworden - und hast sie getötet? Das glaube ich nicht!«

Mir wurde schwer ums Herz. Sehr schwer. Obendrein fror ich entsetzlich in dieser verschneiten winterlichen Straße, mit meinen nassen Hosen und dem kurzärmeligen Hemd.

»Ich werd’s dir ins Ohr sagen«, brachte ich hervor, indem ich umherspähte. Gehorsam drehte Kotja mir den Kopf zu. Ich beugte mich zu seinem Ohr und flüsterte: »Die Sache ist die, dass jedes Funktional besonders empfindliche Sinneszellen an den Ohrläppchen besitzt. Wenn man einem Funktional eins aufs Ohr haut, stirbt es an Verwirrung!«

Kotja schnaubte und richtete sich wieder auf. »Kirill!« Er sah mir in die Augen. »Jetzt mal ernsthaft ...«

»Mir ist nur eins unklar«, fuhr ich im selben Flüsterton fort, mich in keiner Weise darum scherend, ob Kotja mich verstand oder nicht. »Ob das auch bei einem Kurator funktioniert? Oder nicht? Was meinst du?«

»Keine Ahnung«, antwortete Kotja und nahm seine Brille ab.

»Wollen wir’s an dir ausprobieren?«, schlug ich vor.

Fünfundzwanzig

Letzten Endes hatte Borges doch unrecht.

Neben den drei großen Sujets gibt es mindestens noch eins, das unsere Aufmerksamkeit verdient.

Das ist der Verrat durch einen Freund und die Untreue der Geliebten.

Es hätte keinen Krieg gegeben, die lustigen griechischen Kleinkönige hätten sich nicht auf die Suche nach Ruhm (doch wenn wir ehrlich sein wollen, nach Reichtum) begeben, Troja nicht belagert, und Odysseus hätte sich auf der Heimfahrt nicht verirrt, wenn Helena nicht mit Paris durchgebrannt wäre. Jim Hawkins wäre nicht in Gesellschaft von Friedensrichter Trelawney und Doktor Livesey Hals über Kopf losgesegelt, um die Schatzinsel zu suchen, die Piraten hätten das Fort nicht gestürmt und der arme Ben Gunn wäre nach all den Jahren doch nicht nach Hause gekommen, wenn Billy Bones seine Kumpane nicht übers Ohr gehauen hätte und mit der Karte abgehauen wäre.

Andererseits wüssten wir ohne die Untreue Helenas nichts von der Treue Penelopes.

Liebe und Freundschaft sind es, um derentwillen wir Untreue und Verrat hinzunehmen haben.

Trotzdem ist es immer hart, verraten zu werden.

Seufzend wandte Kotja den Blick ab. Schuldbewusst zuckte er mit den Achseln. »Du kannst es ja mal ausprobieren ...«, sagte er. »Woher weißt du, dass ich ein Kurator bin?«

»Natalja hat es mir gesagt.«

»Sie hätte dir das gar nicht sagen können.« Kotja schüttelte den Kopf. »Natalja wusste nicht, dass ich ein Kurator bin. Sie hat noch nicht einmal geahnt, dass ich überhaupt ein Funktional bin.«

»Stimmt. Sie hat nur von einem Kurator gesprochen. Dass du das bist, da bin ich selber drauf gekommen. Leider erst zu spät.« Ich konnte mich nicht beherrschen und hob die Stimme. »So was kommt nicht vor, dass in Dateien die Erwähnungen von Funktionalen erhalten bleiben! So was kommt einfach nicht vor! Der Polizist, der ehemalige Historiker, hat sich darüber beklagt, dass nicht einmal jetzt seine Briefe irgendwo eintreffen und die Dateien sich löschen. Wenn euer Ziel darin besteht, die Menschen aus ihrem Leben herauszureißen, sie daran zu hindern, etwas Wichtiges zu unternehmen, dann bleiben die Daten nicht erhalten. Dann existieren keine Spuren mehr! Fotos verschwinden, Zeugnisse und Kinderzeichnungen. Und da macht dein Computer plötzlich eine Ausnahme? Pah! Verkauf mich doch nicht für dumm, Konstantin!«

Kotja nickte. »Was willst du?« Er breitete die Arme aus. »So ist das immer. Das alles war doch nur gut gemeint ... Mir hat es ohnehin nicht gepasst, dich in ein Funktional verwandeln zu lassen. Noch dazu durch diese Idiotin! Diese frigide bösartige Versagerin. Mir gefallen die da, die von Arkan, selbst nicht, falls dich das beruhigt!«

»Das heißt, du selbst bist also nicht von dort?«

»Nein, Kirill! So einfach ist das alles nicht. Hast du etwa wirklich geglaubt, man schicke aus Arkan eine Landeeinheit von Hebammen samt Chef hierher - die dann die Welt umgestalten sollen?«

»Ungefähr so habe ich mir das zusammengereimt.« Meine Zähne klapperten in einem fort, was Kotja nicht entging. Seufzend öffnete er seine dicke Jacke, reichte sie mir und stand jetzt selbst nur noch in seinem warmen Pullover da. »Zieh die an!«

»Nein, danke.« Ich schüttelte den Kopf.

»Dann leg sie dir wenigstens über die Schultern! Du bist jetzt ein normaler Mensch, du wirst dich sonst erkälten!«

Ich schaltete nicht länger auf stur, dazu war es einfach zu kalt. Mit einiger Mühe brachte ich es am Ende fertig, die Jacke zu schließen.

»Die Dinge liegen etwas anders«, fuhr Kotja fort. »Die Kraft, über die ein Funktional verfügt, ist nicht von ihm ... nicht nur von ihm allein. Sie gehört auch der Welt, in der er lebt. Zu uns kann niemand aus Arkan kommen und anfangen, die Menschen in Funktionale umzuwandeln. Zunächst müssen die einen Kurator finden. Jemanden, der sich alles selbst beibringt, mit ihrer Hilfe natürlich. Er wird ... drücken wir es mal so aus ... die Kontrolle über die Situation insgesamt behalten. Er wird eine globale Entscheidung treffen und die Verantwortung für alles, was passiert, übernehmen.«

»Also bist du einer von uns?«, fragte ich begriffsstutzig.

»Ja! Stärker von uns geht’s gar nicht!« Kotja brach in schallendes Gelächter aus.

»Wie alt bist du?«

»Na ja ... älter als ich aussehe.« Kotja winkte ab. »Aber ich glaube, die Jugend zeigt sich in der Seele. Oder etwa nicht?«

»Kotja.« Nur schwer fand ich Worte. »Aber wieso? Wozu? Warum erlaubst du ihnen das? Weshalb machen sie das mit uns?«

»Was, weshalb?«, ereiferte sich Kotja. »Glaubst du denn, diese Halbidioten hätten das Paradies auf Erden? Pah! Die haben den technologischen Fortschritt ausgebremst, diese Idioten ... Ein Fädchen aus dieser Welt, ein Fädchen aus jener Welt, und schon ist der Kaftan hergestellt ... Bei ihnen toben beispielsweise in ganz Afrika Kriege. Warum? Weil es keine Sklaverei gab! So kompliziert ist das nämlich auf der Welt eingerichtet! Der ganze Kontinent ist eingekesselt, sie versuchen alle diese Großen Äthiopiens, Sonnigen Sudans und Glücklichen Zululänder zu befrieden. Aber dabei kommt nichts heraus! Dafür treffen Ströme von Flüchtlingen ein. Man kann aus fremden Fehlern nicht lernen, Kirill!«

»Aber das haben sie doch!«

»Das glauben sie. Aber ich bin der Ansicht und werde auch zukünftig dieser Ansicht sein, dass eine Zivilisation ohne Fortschritt in Wissenschaft und Technik in Stagnation verfällt und stirbt. Deshalb habe ich für unser beider Erde den Weg einer forcierten wissenschaftlich-technischen Entwicklung gewählt. Ja, ich habe ihn gewählt! Mir wurden nämlich auch andere Varianten offeriert.«

»Und die Kriege?«, sagte ich stur. »Wir haben doch auch überall Kriege. Und Katastrophen.«

»Das sind unvermeidliche Folgen des Fortschritts«, widersprach Kotja scharf. »Ein Opfer muss man immer bringen. Entweder Epidemien, die ganze Länder auslöschen, oder Menschen, die einander ausrotten. Ich habe für unsere Erde diesen Weg gewählt, Kirill. Das gebe ich offen zu. Aber nur, weil keine würdige Alternative existierte.«