»Wenn deine Arkaner ...«
»Das sind nicht meine Arkaner!«
»Wenn die Arkaner das Schicksal der Welten so leicht kalkulieren könnten, wenn sie bloß jemanden aus einer Welt herauslösen müssten, damit es eine andere wird, dann bräuchten sie überhaupt keine Versuchswelten. Ein Labor und Experimente sind nur in den Fällen nötig, wenn du diese Ergebnisse nicht berechnen kannst! Du aber behauptest, die Arkaner wüssten alles auf Jahrzehnte im Voraus. Wie sie eine Welt ohne Technologie schaffen können und wie eine mit. Hier basteln wir uns eine Welt der Religion, dort eine der Wissenschaft und da eine der Wahrsagerei und hier ... ach, was weiß denn ich für eine ... Gut, ich glaube dir! Aber dann sind keine Experimente nötig!«
»Wassilissa ...« Hilflos breitete ich die Arme aus. »Ich erzähle dir doch bloß, was ich weiß!«
»Das alles ist viel komplizierter.« Sie schüttelte überzeugt den Kopf. »Viel komplizierter, Kirill.«
»Gut«, stimmte ich ihr zu. »Es gibt da wirklich noch was. Ich glaube nämlich nicht, dass Arkan die Hauptwelt ist. Wenn du ein paar Welten durchnummerieren müsstest, deine eigene eingeschlossen, die natürlich die wichtigste ist - welche Nummer würdest du ihr geben? Vor allem, wenn die anderen nichts von ihr wüssten dürften? Würdest du sie Erde-1 nennen?«
»Ich würde ihr überhaupt keine Nummer geben. Meine Welt ist einfach meine Welt. Per definitionem. Vor allem, wenn sie geheim ist.«
»Siehst du! Aber sie nennen ihre Welt Erde-1! Also muss es noch eine Welt geben! Erde-0! Und da müssen die Puppenspieler sein, die die Fäden ziehen! Die Arkaner sind auch nur Handlanger!«
Zu meiner herben Enttäuschung reagierte Wassilissa auf meine geniale Schlussfolgerung mehr als kühl.
»Ja und? Selbst wenn es noch eine Welt minus 1 gäbe! Das würde an der Situation nichts ändern. Entscheidend bleibt die Frage: wozu? Wer hat etwas davon? Von diesem Dutzend Planeten mit absolut unterschiedlichen Gesellschaftsformen? Von diesen Experimenten, in denen unterschiedliche Gemeinwesen geschaffen werden? Entschuldige, aber auf so eine Idee kann ja wohl nur ein Soziologe kommen.« Wassilissa milderte ihre Aussage mit einem Lächeln ab, aber ich hätte ihr sowieso nichts entgegenhalten können.
»Ich bin kein Soziologe«, brummelte ich bloß mürrisch.
»Was bist du dann?«
»Ich bin ein Niemand ... ein Hanswurst ... ein Angestellter in einem Computerschuppen ...« Ich stand auf und tigerte durchs Zimmer. »So kommen wir nicht weiter, Wassilissa. Arkan spielt so oder so die Rolle desjenigen, der alle Welten lenkt. Aber wem das nützt und wozu ... das ist eine Frage ...«
»Mich beschäftigt noch etwas anderes«, unterbrach mich Wassilissa. »Wer ist eigentlich auf die Idee gekommen, ein Funktional aus mir zu machen? Und warum ausgerechnet einen Zöllner? Die Türen, die ich geöffnet habe, braucht niemand ... Du hast gesagt, man schubst uns aus der Welt, damit diese sich verändert ... Genau das glaube ich nicht! Wenn du Putin herausnimmst, dann verändert sich die Welt! Oder den Papst! Jemanden wie Pelewin ... Johnny Depp ... Elton John ... von mir aus sogar Dima Bilan! Es gibt Menschen, von denen tatsächlich etwas abhängt. Aber von mir? Oder ... nimm’s mir nicht krumm ... von dir?«
»Ich bin ein guter Zöllner gewesen«, erklärte ich mit völlig unangemessenem Stolz. »Meine Türen waren vorzüglich. Allerdings glaube ich, dass niemand damit gerechnet hatte.«
»Also werden wir eben nicht aus der Welt genommen, damit diese sich ändert«, trumpfte Wassilissa auf. »Da muss etwas anderes hinterstecken, Kirill. Und das musst du rauskriegen.«
»Ich?« Ich setzte mich aufs Fensterbrett. Hinter mir prasselten Regentropfen auf den Sims.
»Wer sonst?«, entgegnete Wassilissa, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. Sie drehte sich mir zu. »Wie du dich vielleicht erinnern wirst, bin ich an dieses Gebäude gekettet. Acht Kilometer und siebenhundertundvierzehn Meter reicht meine Leine. Das habe ich in meiner Freizeit nachgemessen. Wenn ich diesen Bewegungsradius verlasse, geht meine Funktion flöten. Dann werde ich zu einem absolut normalen Menschen. Nur dass sich niemand mehr an mich erinnert, Kirill. Ich würde obdachlos sein, würde unter Heizungsrohren schlafen, lernen, Kölnischwasser zu saufen ...«
»Mich hat man nicht vergessen«, sagte ich. »Meine Eltern haben sich an mich erinnert, meine Freunde auch.«
»Aus deiner Geschichte werde ich sowieso nicht schlau«, gestand Wassilissa. »Wie hast du es geschafft, eine Hebamme zu besiegen? Und dann noch diesen Kurator?«
»Ich weiß es nicht.« Unwillkürlich schielte ich auf meine Hand. Das trug mir eine weitere ironische Bemerkung ein.
»An den Ring der Macht glaube ich nicht. Ich habe selbst welche geschmiedet, als der Film gerade in war. An dem Ring kann es nicht liegen, es muss etwas mit dir zu tun haben ...«
»Womit soll ich anfangen, Wassilissa?«, fragte ich. »Du musst mir helfen.«
»Warum gerade ich?«
»Ich habe sonst keine Freunde unter den Funktionalen.«
»Freunde ...« Wassilissa schnaubte vielsagend.
Ich hielt es für klüger, nicht darauf einzugehen.
»Wenn du mich fragst, läuft alles darauf hinaus, dass du nach Arkan musst. Dort musst du die Lösung für dieses Rätsel suchen. Aber da führen keine Türen hin!«
»Es muss welche geben. Nur hält man geheim, wo. Aber irgendwie müssen die Polizisten aus Arkan schließlich nach Orjol gelangt sein!« Ich sprang vom Fensterbrett und schaute hinaus. Es war das Fenster, an das ich mich noch von meinem ersten Besuch erinnerte.
»Dass sie nicht mit dem Zug gekommen sind, ist mir auch klar«, höhnte Wassilissa.
»Ich glaube aber, sie sind mit dem Zug von Orjol hierher nach Charkow gefahren«, bemerkte ich, während ich auf die stille herbstliche Gasse hinausstarrte.
Der Regen hatte zugenommen, und ein paar kräftige junge Männer, allesamt identisch gekleidet, spannten ihre schwarzen Schirme auf, die sich ebenfalls glichen wie ein Ei dem anderen. Die Typen hatten einen Halbkreis um den Turm herum gebildet und starrten schweigend hoch zum Fenster.
Mir direkt ins Gesicht.
Ich trat vom Fenster weg. Langsam wich ich zur Seite.
Sie glotzten immer noch unverwandt in dieselbe Richtung. Niemand rührte sich, niemand zwinkerte auch nur.
»Sehen die mich?«, fragte ich.
»Nein«, beruhigte mich Wassilissa, nachdem sie an mich herangetreten war. »Durch das Glas kann man nur von innen etwas sehen.«
»Trotzdem ... die wissen doch, dass ich hier bin.« »Oder sie nehmen es an. Wenn sie dich im Zug gesucht haben, dann wissen sie, wohin du wolltest. Kennst du viele Leute in Charkow?«
»Nur dich.«
Wassilissa guckte noch einmal zum Fenster hinaus.
»Die warten auf jemanden«, stellte sie stirnrunzelnd fest.
»Auf einen Polizisten?«, schlug ich vor.
Wassilissa sparte sich die Antwort auf diese eher rhetorische Frage. Sie ließ den Blick durchs Zimmer schweifen.
»Nirwana oder Janus?«, wollte sie wissen.
»Janus?«, fragte ich zurück.
»Erde-14. Im Winter bitterer Frost, im Sommer glühende Hitze. Menschen leben dort keine.«
Mir war alles klar. Ich durfte nicht darauf hoffen, dass Wassilissa den Polizisten nicht hereinlassen würde. Und früher oder später würde der auftauchen. Ich hätte sie auch nie darum gebeten, ihm den Zutritt zu verweigern: Dann würde bloß eine Hebamme auf der Bildfläche erscheinen und kurzerhand Wassilissas Funktion zerstören, diese kleine Zollstelle zwischen Erde, Nirwana und Janus, die niemand brauchte.
»Mich zieht rein gar nichts nach Janus«, erklärte ich.
»Der Name reimt sich nicht angenehm. Wassilissa, kannst du mich nicht auf Nirwana verstecken?«
Wassilissa schaute zu dem Fenster raus, hinter dem Sommer herrschte. »Du würdest dich auf der Stelle ausklinken«, gab sie zu bedenken. »Schließlich bist du kein Funktional mehr. Sicher, ich könnte die Leute bitten, dich in ihrem Dorf zu verstecken. Sie können sich inzwischen ganz gut um Neulinge kümmern. Aber wenn ein Polizist auf die Idee kommt, ihr Dorf zu überprüfen ...«