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»Und auf diese Idee wird er kommen«, entschied ich in Erinnerung an Zei, den Polizisten aus Kimgim, der Illan bis nach Reservat verfolgt hatte. Sie hatte es damals allerdings geschafft, ihm zu entkommen.

Nirwana war jedoch was ganz anderes. Hier brauchte mich niemand zu verfolgen, da konnte man mich, einen Idioten, dem der Sabber aus dem Mund lief und der ständig glückselig lächelte, einfach einsammeln.

»Wo könnte ich mich auf Janus verstecken?«

»Wart mal.« Wassilissa ging zu dem klobigen Büfett hinüber und zog eine Schublade heraus. Ich beobachtete, wie sie sich durch Gebrauchsanleitungen für Mikrowelle und Kühlschrank wühlte, ihr aber auch ein Haushaltsbuch mit Stromrechnungen unterkam. (Mussten Funktionale etwa den Strom bezahlen?) Irgendwann hielt sie ein kleines, ledergebundenes Buch in Händen, das ich nur zu gut kannte: die Zollbestimmungen. Auf dem Einband war in silbernen Buchstaben: JANUS aufgeprägt. Es war ein sehr edles Buch. Das Einzige, was mich stutzen ließ, war sein Umfang. Fast hätte man meinen können, es bestünde lediglich aus dem Einband.

Im Grunde war es tatsächlich so. Von der Erde durfte man jedes x-beliebige Produkt nach Janus ausführen. Umgekehrt ebenfalls. Insofern waren die Zollbestimmungen für Erde-14 denkbar einfach und knapp.

Wassilissa interessierte sich jedoch gar nicht für diese Gesetze. Sie nahm ein zerknittertes Blatt Papier aus dem Buch und reichte es mir. »Hier. Leider versagt da jeder Kompass ...«

Ich erhielt eine Art handgezeichneter Karte, die zwar ziemlich primitiv war, aber klar. In einer Ecke war neben einem geschlängelten Band ein Quadrat eingezeichnet, das war Wassilissas Haus am Fluss. Die Ansammlung von Höckern in der Mitte symbolisierte eine Bergkette, auch wenn sie eher an den von seiner Libido gequälten Versuch eines Studenten erinnerte, möglichst viele große Brüste zu zeichnen. In der gegenüberliegenden Ecke der Karte war ein Turm eingezeichnet, den man als einen weiteren Malversuch des besagten Studenten auffassen konnte, bei dem er seine männliche Pracht vor möglichst vielen Brüsten darstellen wollte.

»Ist es weit?« Ich tippte mit dem Finger auf den Turm.

»Zweiundzwanzig Kilometer.« Wassilissa sah mich ernst an. »Ich selbst komme da logischerweise nicht hin.«

»Wem gehört der Turm?«

»Keine Ahnung.«

»Und woher hast du diese Karte?«

Wassilissa druckste kurz, antwortete dann aber doch. »Ich ... habe da mal ... Also, ich hab mal jemandem geholfen, von Nirwana wegzukommen. Das war sein sehnlichster Wunsch. Auf unsere Erde konnte ich ihn natürlich nicht schicken, da hätten sie ihn gleich geschnappt. Aber damals war auf Janus gerade Frühling. Das ist die einzige Jahreszeit, die da erträglich ist ... Im Sommer bringt dich die Hitze um, im Herbst gießt es, im Winter Schnee. Er ist nach Janus gegangen. Später hat er mir diese Karte zugeschickt. Da hatte er sich bereits zu unserer Erde durchgeschlagen. Er hat es geschafft, diesen Turm zu erreichen und von dort zur Erde zurückzukehren.«

»Kann ich mich auf die Karte verlassen?«, fragte ich.

»Ja.« Ihre Stimme zitterte nicht. Trotzdem klang es nicht sehr ermutigend. Ich sah noch mal zum Fenster raus. Zum dritten Fenster, hinter dem jene Welt lag, die nach dem nicht sonderlich sympathischen Gott benannt worden war und einen unangenehmen Reim ergab.

Dort war alles grau und verhangen.

»Ist da gerade Nacht?«, fragte ich.

»Tag«, antwortete Wassilissa nach kurzem Zögern.

»Und du meinst, ich schaffe es bis zum Turm?«

Wassilissa trat ans Fenster und presste das Gesicht an die Scheibe. Ich verstand nicht sofort, dass vor dem Fenster in jener fremden Welt ein Thermometer hing, ein stinknormales Alkoholthermometer aus russischer Produktion, eine Glasröhre mit zwei Plastikhaltern an den Enden.

»Minus zehn Grad«, teilte Wassilissa mir mit. »Der Frost hat noch nicht voll zugeschlagen. Du hast eine Chance.«

»Zwanzig Kilometer?«

»Zweiundzwanzig. Aber wie es aussiehst, hast du deine Funktionalsfähigkeiten ja nicht vollständig eingebüßt. Vielleicht nützt dir das was ...«

»Ich habe nur eine dünne Jacke«, gab ich zu bedenken.

»Und viel zu leichte Schuhe«, sagte Wassilissa ernsthaft. »Überleg’s dir. Wenn du nach Janus gehst, gebe ich dir ordentliche Sachen.«

»Und wenn ich nicht da hingehe?«

Wassilissa breitete die Arme aus. »Ich werde mich nicht mit einem Polizisten anlegen«, stellte sie nach kurzem Schweigen klar. »Er würde mich umbringen ... und von mir hängt ein ganzes Dorf ab. Flieh, Kirill. Denn die werden mit Sicherheit hier auftauchen.«

Ich schaute noch mal zum Fenster hinaus, nach Charkow, dieser gastfreundlichen, noch schneefreien Stadt ... Von einem Werbeplakat auf der anderen Straßenseite lächelten mir drei Männer zu, die mich anscheinend dazu aufforderten, irgendein spezielles Produkt zu kaufen. Wind und Regen hatten dem Plakat ordentlich zugesetzt, das Gesicht von einem der Typen war völlig aufgeweicht, das von einem anderen wirkte jetzt unzufrieden; nur der dritte hatte sich aller Unbill der Natur zum Trotz seinen Optimismus bewahrt.

Im Grunde hatte ich keine Wahl, was gar nicht schlecht zu den drei Figuren da auf dem Werbeplakat passte. Oder zu dem Stein am Wegesrand, der für den Helden im Märchen verschiedene Prophezeiungen bereit hält - auch das nur eine Entscheidung zwischen Regen und Traufe. Wenn ich nach Nirwana ging, würde ich verblöden, wenn ich in meiner Welt blieb, war ich vollends erledigt. Eine Chance hatte ich nur auf Janus.

Aber zweiundzwanzig Kilometer!

»Ich habe Skier«, bemerkte Wassilissa. »Gute, breite Jagdskier ... Nein, Mist! Einer ist zerbrochen, Kirill, und ich habe noch keine neuen gekauft. Weshalb sollte ich schließlich nach Janus gehen? Gut, so tief ist der Schnee nicht, der Wind trägt ja noch alles weg. Du schaffst es bestimmt ohne Skier, oder?«

Ich sagte ihr nicht, dass ich das letzte Mal in der fünften Klasse auf Skiern gestanden hatte. Danach hatte mich entweder die Erderwärmung abgehalten, oder unser neuer Sportlehrer hatte diese Form der Leibesertüchtigung einfach nicht gemocht.

»Such mir was Warmes zum Anziehen raus«, verlangte ich.

Winterkleidung - und zwar richtige, nicht die Schöpfungen der Modemacher, die nur für den Gang zum Rednerpult gedacht sind - taugt letztendlich gleichermaßen für Männer wie für Frauen. Wie nennen diese Couturiers mit ihrem blasierten Lächeln es so schön: Unisex. Aber wenn es dir egal ist, ob die Knöpfe auf der einen oder auf der anderen Seite liegen, hindert einen Mann nichts daran, einen Schafspelz für Frauen zu tragen. Vorausgesetzt, es handelt sich um eine richtige Frau, kein Magerquarkmodell, sondern eine mit Pferd und Hütte, wie sie schon Nekrassow besungen hat.

Ich bekam - da die Zeiten Nekrassows vorbei waren - zum Glück jedoch keinen Pelz, sondern eine moderne Steppjacke, hergestellt von einer bekannten amerikanischen Firma, hundert Prozent Synthetik, mit der du getrost nach Sibirien fahren könntest. Mehrschichtig nach dem Prinzip einer Thermoskanne saugte sie den Schweiß auf und ließ weder Kälte noch Wind durch. Mit einem albernen, unter durchsichtigem Plastik liegenden Thermometer am Futter und einem zweiten, noch alberneren an der Klappe der Brusttasche. Klar, man musste ja sehen, wie kalt es draußen und wie warm es drinnen war ...

Erfreulicherweise passten mir sogar die Stiefel. Zu enge Schuhe sind das schlimmste, was dir im Winter passieren kann. Obwohl die Moonboots etwas feminin wirkten, mussten sie mindestens Größe 43 haben. Ich bezweifelte zwar, dass das Plastik mich gegen die Kälte schützen würde, aber Wassilissa versicherte mir, sie habe die Schuhe selbst mehrfach getragen und sie hätten ihr bei jeder Kälte gute Dienste geleistet.

Die Pelzmütze war mir allerdings zu klein. Wassilissa machte sich deswegen jedoch keine großen Sorgen, sondern stülpte mir eine Strickmütze auf, die bei mir verschwommene Kindheitserinnerungen wachrief: Spiele an der frischen Luft, Schneeballschlachten und Schneemänner. Ich glaube, wir haben solche Mützen immer »Hahn« genannt.