Ich zog die Fäustlinge aus, schob die Hände unter die Kapuze und rieb mir kraftvoll die Ohren. Okay! Dann würde ich diese Senke halt irgendwie umrunden. Ich machte kehrt und kletterte verdrossen wieder auf den Bergkamm rauf. Den Kopf tief gesenkt, um die Augen gegen den Wind zu schützen, stapfte ich vorwärts und schlug auf einer höheren Ebene einen Bogen um das Tal. Der Felshang war mit einer tückischen, unter Raureif verborgenen Eisschicht überzogen, doch die billigen Moonboots stellten sich als rutschfest heraus.
Nachdem das Tal hinter mir lag, hob ich den Kopf. Genau in dem Moment - welch Ironie! - klarte der Himmel über Janus auf, und die Sonne brach ein wenig heller durch die Wolken, sodass ich die Bergkette vor mir deutlich erkennen konnte.
Die Berge hatten alle etwa die gleiche Höhe, fast, als seien sie mit einem gigantischen Hobel abgeschliffen worden. Die Fläche zwischen ihnen, all diese kleinen Täler, Senken oder Mulden, füllte eine dicke, feste Schneeschicht. Man bräuchte bloß eine Waffel mit Puderzucker zu bestäuben, dann hätte man im Miniaturformat das vor sich, was ich gerade sah.
Ich konnte ewig darüber rätseln, wie dieses Relief entstanden sein mag. Vielleicht würden mir die immer mal wieder wie aus dem Nichts auftauchenden Fähigkeiten eines Zöllnerfunktionals sogar verraten, wie eine solche Landschaftsformation hieß.
Doch so oder so musste ich die Hügelkette irgendwie überwinden. Und wenn mir der Weg durch die Täler versperrt war, musste ich halt oben lang, sozusagen über die Gipfel. Die waren zwar glatt, aber dafür bräuchte ich nicht ständig die Hänge ganz rauf und ganz runter ...
Insofern verzweifelte ich nicht. Achselzuckend senkte ich wieder den Kopf, um mein Gesicht gegen den Wind zu schützen, und kletterte vorsichtig über die rutschigen, vereisten Felsen. Plötzlich hallten in mir tatsächlich Termini wie »kryogenes Gefüge, Hydrolakkolith und Thermokarst« wider. Sprach da jenes enzyklopädische Wissen, das mir einst zur Verfügung gestanden hatte? In dem Fall wäre die Wissenseinspeisung allerdings unvollständig gewesen, ohne Dechiffrierung. Ich hatte die Fachbegriffe parat, hätte mir jedoch nicht mal im Traum anmaßen wollen, sie zu erklären.
Na, wenn schon. Schließlich nahm ich nicht an einer Quizshow teil. Um ans Ziel zu gelangen, musste ich die Füße bewegen, nicht die Zunge.
Und so bewegte ich meine Füße, stiefelte einen steinigen Pfad entlang, der immer wieder in schneeverfüllte Senken führte (dort war der Wind schwächer), aber auch rauf zu den Gipfeln (hier fiel der Schneesturm fröhlich mit neuer Kraft über mich her). Der warme und dreckige Moskauer Winter mit seinem feuchten, grauen Schnee kam mir jetzt nahezu idyllisch vor. Noch sehnsüchtiger erinnerte ich mich an die Gässchen in Kimgim und die Pferdeschlitten, die ungelenken Polizeipanzerwagen mit Alkoholantrieb und die Pärchen, die in altmodischen Anzügen spazierengingen, die weder für Hast noch Gedränge taugten.
Der Winter ist eine ausgesprochen angenehme Jahreszeit. Wenn er auf den Wind verzichtet ...
Nach etwa einer halben Stunde rutschte ich das erste Mal aus und fiel hin. Da ich mich nicht verletzt hatte, stapfte ich munter weiter. Als meine Füße das zweite Mal wegglitten, prallte ich mit dem Steißbein heftig auf den Fels und schlitterte in eine Mulde, wo ich fast bis zur Taille im Schnee versank.
Angst hatte ich keine. Ich fluchte bloß, während ich im Schnee lag, ein Gefühl, als ob sich unter mir Morast oder Treibsand befänden. Dann kroch ich zurück auf den Fels. Als ich mich hinhockte, ging kaum Wind. Ich zog die Handschuhe aus, nahm den Rucksack ab und öffnete ihn. Hatte Wassilissa mir nicht auch eine Thermoskanne eingepackt?
In der Tat, das hatte sie. Ich entdeckte eine kleine Metallflasche. Der Tee war nur lauwarm, denn Wassilissa hatte keine Zeit mehr gehabt, den Samowar aufzusetzen.
Dafür hatte sie in den Tee einen Schuss Kognak oder Whisky gegeben. Nach dem ersten Schluck erlitt ich prompt einen Hustenanfall. Ich schnupperte an der Flüssigkeit. Hmm, nein, das war kein Whisky, das war Rum. Bei der Kälte tat der natürlich gut - doch sollte ich ihn besser mit Vorsicht genießen.
Ich aß einen unter diesen Temperaturen steinhart gewordenen Kringel und nagte an einem Stück gefrorener Schokolade. Irgendwann blickte ich auf die Uhr. Oho! Ich war bereits seit zwei Stunden auf Janus!
Welche Strecke hatte ich in dieser Zeit zurückgelegt? Luftlinie vielleicht fünf Kilometer. Höchstens.
Das Ergebnis behagte mir nicht. Mit jeder Minute würde meine Müdigkeit wachsen. Die Kälte würde mir zusetzen, ich würde schneeblind werden. Ich würde immer langsamer vorankommen. Der Wunsch zu schlafen übermächtig werden. Wie lange musste ich noch durchhalten bis zum Ziel? Sechs Stunden? Acht? Zehn?
Wenn ich noch einmal ausrutschte, dann würde ich mir das Bein ... nein, nicht brechen, sondern bloß verrenken. Zu Hause würde ich mich in einem solchen Fall einfach einen Abend lang ausruhen - und fröhlich weiter durchs Leben hinken.
Hier würde ich einfach sterben.
In dem Moment packte mich zum ersten Mal Angst.
Wir Großstädter rechnen ständig mit Gefahren, allerdings nur mit ganz bestimmten, den üblichen gewissermaßen. Mit einem besoffenen Rowdy in einer Tordurchfahrt, einem Geisterfahrer, einem Terroristen im Flugzeug, mit von einer nahe gelegenen Fabrik verpesteter Luft. Unsere Gefahren gehen in der Regel auf die Zivilisation und den Menschen zurück. Erdbeben, Tsunamis und Überschwemmungen kümmern uns normalerweise nicht. Selbst in den Städten, in denen die Natur perfiderweise hin und wieder zuschlägt, wie zum Beispiel in Tokio oder Los Angeles, fürchtet der Durchschnittsbürger eher die Kündigung als die Tücke der Elemente.
Wir gehen davon aus, dass wir uns die Natur untertan gemacht haben, und holen ihre Meinung nicht ein. Wer jedoch fern der Stadt lebt, hat für die Gefahren der Metropole nur ein mitleidiges Lächeln übrig. Er weiß, wie leicht und schnell vierzig Grad Kälte jemanden umbringen, wie ein Bergrutsch Häuser in Schutt und Asche verwandelt, wie ein Erdbeben jeden Hinweis auf Menschen auslöscht.
Für die anderen ist es freilich besser, wenn sie nichts davon wissen.
Ich rappelte mich hoch, stülpte mir die Handschuhe wieder über und wunderte mich, wie schnell die Wärme aus ihnen herausgekrochen war. Im Unterschied zu meinen Händen waren die Fäustlinge bereits eiskalt. Das würde mir eine Lehre sein. In Zukunft würde ich die Handschuhe unter meine Jacke stecken, wenn ich sie auszog.
Als ich wieder auf den Kamm kraxelte, kam es mir so vor, als ob der Wind zugenommen hatte oder kälter geworden war. Das Thermometer bestätigte diesen Eindruck allerdings nicht. Minus zehn Grad. Anscheinend kam es mir nach der Pause nur kälter vor.
Ich marschierte weiter.
Die Berge schienen kein Ende zu nehmen. Was auf der Karte kinderleicht aussah, stellte sich in der Realität als vereiste Steinbuckel heraus, die sich mir in den Weg stellten. Ich setzte meinen Weg durch das eisige Gestöber fort, das mir mal Schneebrei ins Gesicht trieb, mal mit heftigen, fiesen Schlägen meinen Rücken traktierte. Zweimal fiel ich noch hin, wobei ich einmal fast bis zum Hals einsank. Ich brauchte lange, um mich wieder aus dem Schnee herauszuarbeiten.
Nach vier Stunden, als ich mehr oder weniger am Ende meiner Kräfte war und mich allmählich Verzweiflung beschlich, erwies sich Janus mir gegenüber plötzlich gnädig. Der Wind legte sich, von einer Sekunde zur nächsten, als hätte jemand einen Knopf gedrückt und damit einen gigantischen Ventilator ausgeschaltet. Die Schneewolken verzogen sich, die Sonne glomm als matte Glühbirne am Himmel (wir Metropolenkinder lieben es halt, Naturerscheinungen mit technischen Gegebenheiten zu vergleichen). Der Horizont, bis eben hinter Schneewänden zusammengequetscht, weitete sich mit aller Kraft aus.
Da sah ich auch, dass ich die Berge fast hinter mir gelassen hatte.