Vor mir erhob sich - schon gar nicht mehr so weit weg, vielleicht noch vier, fünf Kilometer - ein tadelloser Turm aus weißem Stein mit gezahnter Spitze. Am ehesten erinnerte er an die entsprechende Figur in einem schlichten Schachspiel.
Da ich hoffte, weit hinter mir als gelben Funken das kleine Fenster in Wassilissas Turm auszumachen, drehte ich mich um. Aber nein, natürlich konnte ich es nicht mehr sehen.
»Alles halb so wild ...«, murmelte ich. Nur in der Stadt wird ein Mensch, der mit sich selbst spricht, belächelt oder voller Abscheu angefeindet. Mitten in der Ödnis, sei diese nun aus Sand oder Schnee, ist jedem klar, wie wichtig eine lebendige Stimme ist, und so fängst du an, mit dem einzigen Menschen in deiner Nähe zu sprechen, mit dem treuesten aller Zuhörer, mit dir selbst.
Fünf Minuten später machte ich mich dank der Windstille bereits an den Abstieg des letzten Bergs. Alle Gefahren lagen hinter mir, jetzt war es wie in dem Kinderlied: »Nur der Himmel, nur der Wind, nur die Freude liegt vor uns.« Auf den Wind konnte ich allerdings verzichten, der Himmel und die Freude genügten mir vollauf. Gleich würde ich an die Tür klopfen ...
Und wenn der Zöllner mich nicht reinließ? Oder wenn er versuchte, mich festzunehmen? Schließlich erhielten alle Funktionale diese Dreckschleuder von Zeitung.
Achselzuckend beschloss ich, mich mit den Problemen erst zu befassen, wenn sie auftauchten. Immerhin hatte die Zeitung ja keinen Aufruf veröffentlicht, mich zu verhaften. Und nach allem, was ich über die Moral der Funktionale wusste, mischten sie sich nicht in die Angelegenheiten anderer ein. Ein Gastronomenfunktional kocht, ein Friseurfunktional schneidet Haare, ein Polizistenfunktional schnappt Leute und lässt sie nicht wieder frei.
Auf der ebenen Fläche gestaltete sich das Vorwärtskommen absurderweise viel schwieriger. Auf dieser Seite der Berge lag Schnee. Nicht sehr hoch, meist bis zu den Knöcheln, höchstens bis zu den Knien. Trotzdem behinderte er mich. Ich ließ den Kopf aber nicht hängen und durchpflügte eine Zeit lang weiter ungebrochenen Muts den Schnee.
Bis ich bemerkte, wie die Dunkelheit hereinbrach.
Dem Stand der Sonne zufolge blieben mir bis zum Einbruch der Nacht noch drei, vier Stunden. Nach seiner kurzen Verschnaufpause legte der Wind erneut los, noch dazu mit frischer Kraft. Die Wolken zogen sich in einem absolut undurchdringlichen Streifen am Himmel zusammen. Bald würde an Stelle der Sonne nur noch ein matter Fleck am Firmament stehen. Der Schnee fiel in schweren Flocken, fast schon Klumpen. Außerdem wurde es kälter, entgegen allen »zuverlässigen« Regeln, wonach es wärmer wird, sobald es schneit. Offenbar galten diese Regeln nicht für Janus.
Stur setzte ich meinen Weg fort. Es wurde immer dunkler, seit einiger Zeit schon nahm mir der Schneevorhang jede Sicht auf den Turm des unbekannten Zöllners. Ich stapfte weiter. Meine Beine blieben immer wieder im Schnee stecken. Meine Hände erfroren in den Fäustlingen. Als ich kurz stehen blieb und durchatmete, bemerkte ich, dass die Strickmütze auf meinem Kopf schweißgetränkt war. Ich nahm sie ab, warf sie nach kurzem Zögern einfach weg und schnürte stattdessen die Kapuze enger. Ich holte die Reste der in der Eiseskälte zerbröckelten Schokolade aus meinem Rucksack und aß sie auf. Dann biss ich ein Stück von dem angefrorenen Speck ab und trank den Tee aus der Thermoskanne aus. Er war inzwischen kalt.
Nach meinen Berechnungen lag höchstens noch ein Kilometer vor mir. Selbst wenn ich knietief im Schnee einsank und selbst wenn der Sturm anhielt, dürfte das nicht länger als eine halbe Stunde dauern. So ausgelaugt war ich noch nicht, den Kilometer würde ich noch schaffen.
Hauptsache, ich verlief mich nicht. Hauptsache, ich verfehlte den Turm nicht, lief nicht zehn Schritte entfernt an ihm vorbei.
Aber müssten mir hier nicht meine früheren Fähigkeiten helfen? Wenigstens ein bisschen! Ich hatte doch mal instinktiv gespürt, wohin ich gehen musste, hatte den Abstand zu meinem Turm mal auf den Meter genau angeben können!
Während ich weiterging, schneite es immer heftiger, wurde die Sicht immer schlechter. Ich harkte mit den Händen durch den grauen Vorhang, tastete mich vor, als ob ich in Gelee schwimmen würde, blieb alle fünf Minuten stehen, spähte umher und versuchte, etwas zu erkennen, ein Licht, eine Mauer, eine schwarze Silhouette am Himmel...
Nichts. Unter mir Schnee. Über mir Schnee. Um mich herum Schnee. Und die Dunkelheit, die immer mehr zunahm.
Beim nächsten Halt hockte ich mich hin und presste die Hände gegen die Brust. Um mich herum tobte graue Kälte. Der Schneesturm, der mir anfangs pikende Körner ins Gesicht getrieben hatte, ließ zwar nicht nach, aber seine Berührungen wirkten jetzt sanfter, fast zärtlich.
So fängt es an, wenn man erfriert ...
Ich zog die Handschuhe aus und ließ sie entgegen allen guten Vorsätzen fallen, rieb mir lange die Augen und massierte mir die Wangen. Auf meinen Lidern hatte sich eine Eiskruste gebildet. Die Haut an meinen Wangen war bereits ganz taub und fühlte sich grob wie Zeltleinen an.
Ich hasse Kälte...
Als ich mir die Handschuhe wieder überstülpen wollte, fand ich sie nicht mehr. Der Wind musste sie weggeweht haben. Sie konnten hundert Meter entfernt liegen, aber auch nur einen. Egal, so oder so sah ich sie nicht.
Ich brach in schallendes Gelächter aus, denn für einen Schrei reichte meine Kraft nicht mehr.
Hatte ich es also doch nicht bis zum Turm geschafft. Hatten sie am Ende doch gesiegt. Die Labormaus, die aus einem der Käfige hatte ausbrechen können, war eben längst noch nicht in Sicherheit. Labormäuse überleben in freier Natur nicht. Und man braucht sie nicht mal zu jagen...
Zusammengekrümmt, das Gesicht aus dem Wind gedreht, lieferte ich mich wieder den Naturgewalten aus. Ich rieb mir mit der bloßen Hand übers Gesicht, versuchte meine Hand mit meinem Atem warmzuhauchen. Alle Kräfte waren auf ein Ziel gerichtet: nicht hinfallen. Denn wenn ich fiel, würde ich einschlafen. Sofort. Für immer.
Andererseits: Warum focht ich diesen Kampf überhaupt noch weiter?
Am Ende würde es ja doch auf meinen Tod hinauslaufen.
Das war so dumm. Die gesamte Strecke hatte ich bereits hinter mich gebracht. Diese beschissenen Hügel mit ihren dämlichen Hydrolakkolithen und dem Thermokarst hatte ich überquert.
Und dann hatte ich mich verlaufen. Vielleicht loderte zehn Meter von mir entfernt hinter der Steinmauer ein Feuer im Kamin, trank der Zöllner heißen Glühwein und schaute genussvoll ins wilde Schneetreiben hinaus ...
Der Wind zerrte heftig an meinem Arm. Indem ich mich mit einer Hand im Schnee abfing, verhinderte ich einen Sturz. Doch schon schubste er mich erneut. Anschließend packte er mich allerdings unter den Achseln und stellte mich wieder auf die Beine.
Der ... Wind?
Röchelnd spähte ich in die Dunkelheit. Meine eisverkrusteten Wimpern und die Dunkelheit ringsum machten es jedoch unmöglich, irgendwas zu erkennen. Einen Fuß vor den anderen setzen - das war das Einzige, womit ich dem Menschen, der mich da durch die Finsternis zog, zu helfen vermochte.
Aber wie kam ich eigentlich darauf, dass es ein Mensch war? Vielleicht handelte es sich auch um eines der hiesigen Monster. In Kimgim gab es Kraken, auf Janus vielleicht Eisbären ... wie sie Santa Claus vor seinen Schlitten gespannt hatte ... ach, nein, das waren ja Rentiere ... aber unser Väterchen Frost, dieser Kraftprotz ... zu dem könnten statt der Pferde durchaus Eisbären passen.
Mein Kopf hatte sich bereits abgemeldet. Meine Beine konnte ich kaum noch bewegen, tiefer und tiefer glitt ich in die Bewusstlosigkeit ab.
Mein letzter und zugleich schrecklichster Gedanke war: Und was, wenn ich das alles bloß träume?
Der Alkohol verbrannte meine Kehle, ein flüssiges Feuer rann mir die Speiseröhre hinunter. Keuchend und hustend stemmte ich mich auf die Ellenbogen hoch. Tränen schossen mir in die Augen, die ich beim besten Willen nicht weggeblinzelt kriegte. Das Einzige, was ich zweifelsfrei erkennen konnte, war, dass ich mich in einem Zimmer befand.