Ich lag auf einem groben, kratzigen Teppich, meine Sachen türmten sich neben mir. Der Mann, der mir den Alkohol eingeflößt hatte, zog mir gerade die Hose aus. Ich nahm nur seine Silhouette insgesamt wahr; etwas zu fokussieren, gelang mir immer noch nicht.
»Danke, Landsmann«, murmelte ich.
»Wieso Landsmann?«
»Wer sonst« - ich holte Luft - »würde einem erfrorenen Menschen ... reinen Alkohol geben.«
»Dann schon eher Landsmännin.« Eine Frau beugte sich über mich. Eine schlaksige Frau mit freundlichem Gesicht, noch jung, vielleicht Anfang zwanzig. Sie erinnerte mich an Nastja, nur dass sie irgendwie schlichter wirkte. Die unsichtbare Grenze, die zwischen einer atemberaubenden und einer hübschen Frau verläuft, hatte mich immer frappiert. Dasselbe Oval des Gesichts, dieselbe Form der Augen und der Nase, alles ist irgendwie ähnlich, doch ein paar Millimeter, die das Auge nicht mal wahrnimmt, verändern alles grundlegend.
Gerade diese Grenze zwischen schlichtem Liebreiz und Schönheit erlaubt es Frauen wiederum, mit ein paar Gramm Schminke wahre Wunder zu vollbringen.
Eine Zeit lang musterte die Frau mein Gesicht, dann nickte sie zufrieden. »Die Ohren werden dir vermutlich nicht abfallen. Kannst du gehen? Wenn es nicht weit ist?«
»Selbstverständlich!«, behauptete ich in übertrieben munterem Ton und versuchte aufzustehen. Die Frau bot mir ihre Schulter an. Selbst eine schlanke Figur hinderte ein Funktional weiblichen Geschlechts ja nicht, über Kräfte zu verfügen, die dem Ringer Iwan Poddubny zur Ehre gereicht hätten.
Weit hatten wir’s wirklich nicht, nur bis zum Bad. Einen Stock rauf und durch einen kurzen Korridor. Auf dem Weg dahin versuchte ich, meinen Brechreiz zu unterdrücken. Der Alkohol rumorte widerlich in meinem Magen, als habe er sich dort in einen Klumpen ekligen und zähen Kleisters verwandelt. Zweimal hatte ich bisher in meinem Leben reinen Alkohol getrunken, das erste Mal als Jugendlicher, als ich mit meinem Vater auf Jagd ging (ja, genau, so eine typisch russische Jagd, deren Ziel keinesfalls in der Tötung unglücklicher Tierchen besteht). Damals hat er mir »einen Schluck zum Aufwärmen« gegeben, nachdem wir in einem herbstlich kalten Fluss gebadet hatten. Das andere Mal hatte ich reinen Alkohol getrunken, als ich bereits erwachsen war. Eines Abends hatten meine Freunde und ich eine Flasche Wodka geleert, worauf wir - sämtlichen Erwartungen entsprechend - das Gelage fortsetzen wollten, jedoch zu faul waren, zum nächsten auch nachts offenen Supermarkt zu pilgern. Deshalb suchten wir eine Apotheke auf, die rund um die Uhr geöffnet hatte und gleich nebenan war, um einige Fläschchen mit einer »antiseptischen Flüssigkeit« für zehn Rubel das Stück zu erwerben, ein widerliches Zeug, das wir für reinen Äthylalkohol hielten, diese Freude aller Moskauer Saufbrüder ... Das Komischste daran war, dass wir in derselben Apotheke eine Flasche Perrier sowie einige heilkräftige, besonders pure Gemüsesäfte aus Deutschland kauften, um den Alkohol herunterzuspülen. Mineralwasser und Gemüsesäfte kamen uns weitaus teurer zu stehen als normaler Wodka. Vielleicht war der Alkohol damals nicht ganz so rein, vielleicht bekam den gesunden Säften aus Deutschland eine derartige Beimengung auch nicht und sie verbanden sich mit dem Alkohol zu einem Giftgebräu - jedenfalls wachte ich am nächsten Morgen mit dem schlimmsten Kater meines Lebens auf, der mich ein für alle Mal vom reinen Alkohol abbrachte.
Das Badezimmer der Frau überraschte mich mit unvorstellbarem Luxus. Selbst jetzt, wo ich vor Schwäche halbtot war, brachte ich murmelnd meine Begeisterung zum Ausdruck, kaum dass wir den funkelnden runden Saal betraten. Marmorwände, Bronzelampen, eine riesige, in den Boden eingelassene runde Wanne mit heißem Wasser, aus der Dampf aufstieg ...
»Zieh dir die Unterhose aus und steig ins Wasser«, befahl die junge Frau. »Ich komme gleich wieder.«
Ich genierte mich nicht, auch wenn an mir die traurige Vorahnung nagte, diese offen zur Schau gestellte Nacktheit würde jede Möglichkeit einer zukünftigen romantischen Beziehung im Keim ersticken. Welche Frau würde sich schon in einen Mann verlieben, der sich seinen abgefrorenen Arsch in ihrer Wanne aufwärmte?
Auf der anderen Seite: Wieso rechnete ich mir bei der Frau überhaupt Chancen aus? Sie war ein Zöllnerfunktional, ich ein Verbrecher auf der Flucht ... Ich konnte von Glück sagen, wenn sie mich nicht ans Messer lieferte.
Als ich in das heiße Wasser eintauchte, stöhnte ich vor Vergnügen auf. Die Größe der Wanne erlaubte es, dass ich mich lang ausstreckte. Auf dem Wasser schwamm ein kleines hermetisches Pult. Nach ein paar Experimenten mit den Knöpfen knipste ich in der Wanne erst ein Licht ein, dann wieder aus (mir stand der Sinn nicht nach dieser intimen Beleuchtung), bevor ich eine Wassermassage in Gang setzte: Vom Wannenboden schossen fadenförmig Luftblasen auf. Nicht dass mich plötzlich die Sehnsucht nach dem schönen Leben gepackt hätte, ich fühlte mich in dem sprudelnden, trüben Wasser einfach unbefangener.
Nach ein paar Minuten kehrte die Frau mit einem großen Becher Tee zurück. Dankbar nickend, trank ich ein paar Schluck. Der Tee war heiß und mit Honig gesüßt. Angeblich vernichtet ja heißer Tee die Heilkräfte des Honigs, aber das war mir egal.
»Und wie heißt du, Landsmann?«, wollte die Frau wissen, die jetzt neben der Wanne hockte. Sie trug abgewetzte Jeans und ein übergroßes kariertes Hemd und lief barfuß herum. Im Kino warten Frauen wie sie auf ihrer Ranch auf einen mutigen Cowboy ...
»Kirill.« Ich verzichtete auf eine Lüge.
»Hast einen seltenen Namen ... Landsmann.« Aus ihrer Stimme hörte ich Ironie heraus.
»Wie heißt du denn?«, fragte ich argwöhnisch zurück.
»Marta.«
»Ein ganz normaler Name.« Ich zuckte die Achseln.
»Wieso, gibt es den in Russland?«, fragte Marta verwundert.
»Ja ... wenn auch nicht oft ... Du bist also keine Russin?«
»Ich bin Polin!« Mit meiner Vermutung hätte ich mir beinahe ihren Zorn zugezogen.
»Verstehe.« Ich nickte. »Darauf hätte ich auch selbst kommen können. Außer Russen und Ukrainern sind nur noch Polen imstande, einem lebenden Menschen reinen Alkohol einzuflößen.«
»Ich kann nicht gerade behaupten, dass mich die Ähnlichkeit freut«, teilte Marta mir gallig mit. »Was ist mit deinen Fingern? Und deinen Zehen? Kribbeln die?«
Ich bewegte erst die Zehen, dann die Finger. »Alles in Ordnung«, beruhigte ich sie. »Allem Anschein nach bin ich noch mal mit heiler Haut davongekommen. Danke, dass du mich in den Turm gebracht hast.«
»Ich habe dich nirgendwo hingebracht.« Marta holte aus ihrer Brusttasche eine eingedrückte Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug. »Du bist allein reingekommen.«
Kurzerhand zündete sie gleich zwei Zigaretten an. Schon wieder eine Szene wie aus einem Film. In alten Hollywoodfilmen hatte ich sie hundert Mal gesehen, in der Realität aber noch nie. Ohne mich vorher zu fragen, steckte sie mir eine Zigarette in den Mund. Genüsslich nahm ich den ersten Zug. Meine letzte Zigarette hatte ich noch in Charkow geraucht.
Der Tabak war stark. Ich schielte auf die Schachtel.
Die Marke kannte ich nicht. Eine polnische, offensichtlich eine billige.
In dem Moment fiel bei mir der Groschen.
»Ich bin selbst hier reingekommen?«
»Ja. Es hat an der Tür geklopft, da habe ich aufgemacht. Du bist dann zusammengebrochen. Wieso fragst du?«
»Ich kann mich nur noch erinnern, wie ich deinen Turm gesucht habe und schon halb erfroren war«, log ich, ohne mit der Wimper zu zucken. Genauer gesagt: Ich log nicht, sondern gab nur einen Teil der Wahrheit preis. »Ich war überzeugt, dass ich erfrieren würde.«
»Nein, du hast es aus eigener Kraft geschafft.« Marta schaute mich nachdenklich an. Anscheinend spürte sie, dass noch etwas in der Luft hing ...