»Was sind das denn für welche?«, fragte ich, vom Anblick völlig gebannt. Bis auf die unglückseligen Bewohner Nirwanas und die Einwohner Kimgims, die sich sehr gut mit uns vergleichen ließen, hatte ich noch keine Menschen in anderen Welten zu Gesicht bekommen.
»Ein Herr mit seinem Sklaven«, antwortete Marta. »In der Nähe ist das Lager der Sargmacher. Der Mann ist offensichtlich nicht sehr reich, deshalb hat er eine Knochenurne vorab gekauft, ein großes Ding, aber ohne Gravur ... und vermutlich auch im Preis herabgesetzt.«
Ich schielte zu Marta hin. Ihr Gesicht wirkte völlig ernst.
»Und der Sklave, das ist der mit dem goldenen, brillantbesetzten Halsband?«, hakte ich nach.
»Wer sonst? Stört dich da etwas? Es ist halt ein reicher Sklave.«
»Und ein armer Herr? Kann er denn seinem Sklaven das Geld nicht einfach abnehmen?«
»Nein, das kann er nicht. Die Sklavenhaltergesellschaft hier ist sehr hochentwickelt. Ein Sklave darf durchaus Trüffel essen, Foie gras und schwarzen Kaviar, in einem weichen Federbett schlafen, Diener haben und sich Mätressen halten.«
»Und eigene Sklaven ...« »Nein«, widersprach Marta scharf. »Genau das darf er nicht. Das gehört zu den Privilegien eines Freien. Diese Gesellschaft ist wirklich seltsam.«
Ich schaute dem kräftigen Sklaven und dem Tattergreis nach. »Und die Knochen passen in dieses Gefäß?«
»Ja. Sie werden vorher zu Staub zermahlen. Zunächst überlässt man den Körper den Vögeln, Füchsen oder Fischen zum Fraß, das kann jeder nach Belieben entscheiden. Dann werden die Knochen eingesammelt, zerkleinert und in diesen Zylinder gegeben. Er wird auf dem Dach des Hauses aufgestellt oder auf dem Friedhof, falls das Haus nicht an Blutsverwandte vererbt wird.«
Ich erschauderte.
»Eine ungewöhnliche Welt«, bestätigte Marta. »Aber irgendwie kommen sie zurecht.«
Sie schloss die Tür und ging zum vierten und letzten Ausgang weiter. Da mir Erde-16, die einzige Welt, nach der ich mich erkundigt hatte, zum Dessert serviert wurde, machte ich mich auf einen erstaunlichen Anblick gefasst.
Dennoch hätte ich mir selbst im Traum nicht vorstellen können, wie erstaunlich er sein würde.
Es gab nur zwei Farben, rot und schwarz. Bis zum verblüffend nahen Horizont erstreckte sich eine zerklüftete Ebene. Vereinzelt erhoben sich glatte, vom Wind abgeschliffene Felsen aus rotem Gestein. Es roch nach Schwefel. Ein trockener heißer Wind trieb Staub über die Schwelle, roten und schwarzen.
Dunkelrot oder purpur war auch der Himmel, der tief und lastend über uns hing. Das sah nicht nach Wolken aus, eher nach einer straffen Membran, die sich hundert Meter über der Erde spannte. Ab und an leuchtete durch diesen purpurroten Baldachin hindurch ein helles Licht, als ob am Himmel ein lautloses Gewitter tobte.
»Herrgott!«, entfuhr es mir.
Aber was blieb mir anderes übrig, als mich an den nur hypothetisch existierenden Allmächtigen zu wenden? Sicher, ich hätte dreckig fluchen können. Aber in Gegenwart einer Frau ...?
»Mir kommt es auch manchmal so vor, als ob das die Hölle ist«, gestand Marta. Anscheinend interpretierte sie meinen Aufschrei allzu wörtlich.
Ich schielte zu ihr hinüber. Unverwandt starrte sie hinauf in den dunkelroten Himmel. Sie beleckte sich die Lippen, denn aus der schwarzroten Ebene wehte ein heißer, sengender Wind heran.
»Einmal habe ich gesehen ...«, setzte sie mit raunender Stimme an. »Also ich glaube, dass ich das gesehen habe. Dass etwas Weißes vom Himmel herabgefallen ist. Etwas ... wie ein großer weißer Vogel ...«
»Oder ein Mensch?«, fragte ich, denn ich ahnte, was sie dort gesehen hatte - oder glaubte, gesehen zu haben.
»Menschen haben keine Flügel«, antwortete Marta ausweichend.
»Bist du nicht rausgegangen, um es dir näher anzusehen?«
»Das Wesen war riesig. Doppelt so groß wie ein Mensch. Ich hatte Angst.« Lächelnd sah sie mich an. »Angeblich ist Erde-16 eine vulkanische Welt. Es wird empfohlen, von einem Besuch abzusehen. Jedem. Selbst den Funktionalen. Diejenigen, die sich weit ins Land vorgewagt haben, sind nie zurückgekommen.«
Die Ebene vor uns bebte merklich. Am Horizont schwoll langsam und träge eine Blase an, eine weiße Kuppel, die erzitterte und platzte. Über einen der roten Felsen mäanderte ein Riss.
Im Turm spürten wir nichts von dem Erdbeben - was das Ganze allerdings noch grauenhafter wirken ließ.
»Das kommt hier öfter vor ...« Plötzlich griff Marta nach meiner Hand. »Und jetzt auch noch das ...«
Über der Ebene erhob sich ein langes, gedehntes Heulen. Als ob tausend Stimmen zu einem gepeinigten und hoffnungslosen Klageschrei verschmölzen.
»Was ist das?«, fragte Marta. »Was um alles in der Welt ist das?«
Ich schluckte. In der Ferne verebbte der Schrei. Ich fühlte mich wie Doktor Watson, der Sir Henry eine Erklärung schmackhaft machen wollte, an die er selbst nicht glaubte, als ich sagte: »Vulkane erzeugen manchmal seltsame Geräusche ...«
Marta drehte sich mir zu. Einen Moment lang taxierte sie mich mit finsterem Gesichtsausdruck. »Ich habe die russische Verfilmung vom Hund von Baskerville auch gesehen«, kanzelte sie mich ab.
»Schon gut«, beschwichtigte ich sie. »Aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass du eine Tür in die Hölle geöffnet hast, wo Engel vom Himmel fallen und unter der Erde die sündigen Seelen klagen.«
Die nächsten Sekunden brachte Marta keinen Ton heraus.
Und dann lächelte sie und schloss die Tür. »Du hast starke Nerven«, konstatierte sie. »Fast jeder klappt bei dem Anblick zusammen. Vor allem wenn der Geysir gerade ausbricht.«
»Und worum handelt es sich bei dieser Erde wirklich?«
»Verbranntes Land. Fumarolen. Geysire. Vulkane. Du kriegst da kaum Luft. Ein ...« Sie stockte. »... ein Wissenschaftler hat mir mal erklärt, früher hätte unsere Erde ebenfalls so ausgesehen. Dann hätten sich die Wolken jedoch verzogen und die Vulkane seien erloschen. Aus irgendeinem Grund ist das auf Erde-16 nicht passiert. Die Welt taugt überhaupt nichts. Außerdem strahlt sie.«
»Bitte was?«
»Sie strahlt. Ist radioaktiv verstrahlt. Wie in Tschernobyl.«
»Stark?« Sofort wurde ich nervös. Marta konnte das ja egal sein, schließlich war sie ein Funktional, aber ich ...
»Nein. Du brauchst keine Angst zu haben. Wenn du nicht dort lebst, nicht auf der Erde schläfst und die Luft nicht lange einatmest, passiert dir nichts.«
Anscheinend hatte ich bei Marta Pluspunkte gemacht, nachdem ich mich von der gespenstischen Szenerie auf Erde-16 nicht hatte einschüchtern lassen. Zumindest sah sie mich jetzt wesentlich freundlicher an. »Hast du Hunger?«, erkundigte sie sich sogar.
»Natürlich.«
»Gut. Dann treib ich jetzt ein paar Sachen für dich auf ...« Sie verstummte kurz, fuhr dann aber fort: »Und wenn du willst, lade ich dich nach Elblag zum Abendessen ein.«
»Ich bin nicht daran gewöhnt, dass mich Frauen einladen.«
»Na und?« Ich meinte aus ihrer Stimme eine gewisse Enttäuschung herauszuhören.
»Nichts, ich werd mich halt dran gewöhnen«, sagte ich seufzend.
Fünf
Die Gemeinsamkeiten zwischen Elblag und Kimgim beschränkten sich nicht darauf, dass beide Namen fremd für meine Ohren klangen. Die kleine polnische Stadt war ebenfalls mit Häusern im Stil »Mitteleuropa, Renaissance und später« bebaut. Solche Städte gibt es im Grunde zuhauf - und zwar überall da, wo die Dampfwalze des Zweiten Weltkriegs sie verschont hat, wo weder deutsche Kanonen noch russische Katjuschas oder amerikanische B-17 ihr Werk verrichtet haben. Restauratoren können sich da noch so ins Zeug legen - den Gebäuden ist ihr Alter anzusehen. Man braucht die touristischen Pfade bloß mal zu verlassen, und sofort stößt man auf abblätternden Putz, bröckelndes Mauerwerk, verfaultes Holz und rissigen Stein.