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Hier wirkte jedoch genau wie in Kimgim alles tipptopp. Frisch. Neu. Sowohl das Pflaster als auch die Fachwerkhäuser im deutschen Stil. Zwischen zwei solche Häuser zwängte sich der kleine Turm, in dem Marta lebte. Auf der Elblager Seite handelte es sich bei ihm um ein schmales, zweistöckiges Haus mit zwei Fenstern. Wie üblich nahmen normale Menschen den Bau nicht wahr, ansonsten hätte das helle Sonnenlicht, das durch eines der Fenster im zweiten Stock fiel, vielleicht jemanden irritiert. Vermutlich hatte Marta das Fenster nach Antik aufgelassen.

Marta und ich saßen in einem kleinen Restaurant, in dem man sie anscheinend gut kannte. Lächelnd hatte man uns in den ersten Stock hinaufgeführt, in dem fünf oder sechs Tische standen. Wir bekamen den schönsten von ihnen, vor einem Fenster, das zum Platz hinausging, und von den übrigen durch ein grünumranktes Holzgitter getrennt.

Marta beobachtete amüsiert, wie ich die in Polnisch abgefasste Speisekarte studierte, und gab dann eine Bestellung für uns beide auf.

»Du verstehst wohl nur Bahnhof?«, fragte sie, sobald der Kellner wieder weg war.

»Es gibt zu viele ähnliche Wörter«, murmelte ich. »Deshalb verstehe ich nichts. Was hast du bestellt?«

»Borschtsch. Der ist hier sehr gut. Dann Schweinefleisch mit Äpfeln. Heringssalat. Dazu eine Żubrówka.«

»Ja, Wahnsinn! Die echte polnische Küche wollte ich schon lange mal ausprobieren«, höhnte ich. Doch offenbar hatte ich Marta mal wieder unterschätzt, denn meine Ironie entging ihr nicht.

»Du möchtest also eines der traditionellen Gerichte, ja? Etwas Typisches? Soll mir recht sein. Dann bestelle ich vorneweg Czernina, danach Flaki ...«

»Stopp!« Ich hob die Hände. »Ich bin ein Mann von Verstand, ich wittere einen Hinterhalt aus hundert Metern. Borschtsch ist absolut fabelhaft! Ich bin sogar bereit zuzugeben, dass die Polen ihn erfunden haben.«

»Haben sie«, sagte Marta nachdrücklich.

Der Kellner brachte eine Karaffe mit einer klaren Flüssigkeit, in der ein schmaler Grashalm schwamm.

»Das ist wohl was anderes als das, was ihr in Russland als... Żubrówka verkauft«, meinte Marta herablassend.

»Das ist richtige Żubrówka. Mit einem Grashalm!«

Gegen die Wahrheit kommt man nicht an - weshalb ich auf jeden Widerspruch verzichtete. Vor allem da ich mich nicht ausgerechnet mit meiner Retterin streiten wollte. Sie musste einen richtig widerlichen Russen kennen, sonst hätte sie wohl kaum diese Ironie und diese Angriffslust an den Tag gelegt. Oder?

Die Żubrówka war wirklich gut. Schweigend tranken wir ein Glas. Auch der Borschtsch stellte sich als exzellent heraus.

»Ich habe heute Morgen in Charkow schon Borschtsch zum Frühstück gegessen«, sagte ich in dem Versuch, ein unverfängliches Thema zu finden. »Und jetzt esse ich ihn in Polen zum Abendbrot. Es muss mein Borschtsch-Tag sein.«

»In der Ukraine verstehen sie überhaupt nichts vom Barszcz«, blaffte Marta. »Den haben sie von uns übernommen, nur dass unserer eben besser ist.«

Obwohl Russland und die Ukraine schon seit einiger Zeit nicht mehr zusammengehörten, nahm ich ihr die Bemerkung krumm. »Ich weiß nicht«, griff ich zu einer Lüge. »Mir schmeckt der ukrainische eigentlich besser!«

»Da machen sich doch nur deine russischen Kolonialkomplexe bemerkbar«, konterte Marta überzeugt. »Alle unvoreingenommenen Leute geben zu, dass der Borschtsch in Polen besser ist. Du musst mal den Heringssalat probieren! Na, wie ist er?«

»Gut«, urteilte ich, als ich von dem Heringssalat kostete, den ich seit meiner Kindheit kannte.

»Der Fisch wird hier gefangen.« Marta wies mit der Hand in die Dunkelheit, als ob vor dem Fenster ein Kutter vorbeischwamm.

»Liegt Elblag denn am Meer?«

»An der Ostsee. Wusstest du das etwa nicht?«

»Weißt du denn, wo Urjupinsk liegt?«, fragte ich zurück.

»Ja. Das ist eine Stadt im Wolgograder Gebiet ...«

»Und ohne deine Funktionalsfähigkeiten?«

Endlich ging Marta der Nationalstolz aus, endlich brach sich ihre Neugier Bahn. »Du hast alles vergessen? Und all deine Fähigkeiten verloren?«

Ich nickte.

»Wie hast du dann die Hebamme umgebracht?«

»Ich hab’s halt geschafft ...«, antwortete ich vage. »Ich möchte nicht darüber reden ...«

»Du bist schon komisch.« Marta zündete sich eine Zigarette an und hielt auch mir die Schachtel hin. »Jemandem wie dir bin ich noch nie begegnet ...«

»Kennst du viele Funktionale?«

Schweigend nahm sie einen weiteren Zug. »Also, hier bei uns ...«, setzte sie mürrisch an. »Hier leben drei. Dzieszuk, Kazimierz und ich. Dzieszuk ist Koch. Nicht hier, sein Restaurant liegt am Stadtrand. Kazimierz ist Schneider. Zwei weitere können aus den Vororten hierherkommen. Kwitarz, der Fleischer ist. Und Krzysztof, ein Polizist. Erde-16 ist unbewohnt, Janus im Grunde auch, zumindest gibt es da keine Funktionale. Auf Antik lebt Saul. Er ist ein Glasbläserfunktional. Ein Sklave. Er ist gut ...« Das sekundenkurze Stocken verriet mir, dass Marta und Saul mehr verband als reine Bekanntschaft. »Aber sehr beschäftigt.«

»Das sind nicht viele«, fasste ich zusammen.

Erst jetzt begriff ich, wie kurz die Leine war, die die Funktionale an ihre Funktion band. Ich hatte wirklich das große Los gezogen: Um mich herum das riesige Moskau, dann noch Kimgim und Reservat, also eine moderne Metropole plus eine anheimelnde Stadt, die den Werken von Jules Verne und Charles Dickens entsprungen zu sein schien, und als Zugabe das warme sanfte Meer. Aber die Funktionale, die in kleineren Städten oder Dörfern lebten, mussten verdammt unglücklich sein.

Zum Beispiel Wassilissa in ihrer Schmiede.

Oder Marta in ihrem Turm.

»Dazu kommt noch die Hebamme«, fuhr Marta plötzlich fort. »Die Person, die dich zum Funktional macht. Bei uns in Europa ist das ein Mann.«

»Lebt er hier in der Nähe?«

»Nein.« Marta sah mich erstaunt an. »Ich weiß es nicht. Aber was spielt das schon für eine Rolle, schließlich gehen Hebammen nicht an der Leine! Ich glaube, er lebt in Frankreich oder Deutschland, kommt aber hin und wieder hierher. Er hat mich damals zum Funktional gemacht.«

Wir tranken noch ein Gläschen.

»Wie alt bist du eigentlich?«, wollte ich wissen. »Entschuldige die Frage ...«

»Was schätzt du denn?«

»Zwanzig.«

»Stimmt.«

»Und du bist seit neun Jahren Funktional?«

»Ja.«

Das verschlug mir die Sprache. Aus unerfindlichen Gründen war ich mir sicher gewesen, man würde nur Erwachsene in Funktionale verwandeln. Wie musste sich dieses Mädchen gefühlt haben, als seine Eltern, Nachbarn und Lehrer es von heute auf morgen nicht mehr erkannten? Wie hatte Marta das weggesteckt, mitten in ihrer Heimatstadt, wo sie jedes Gässchen und jedes Lädchen kannte? Was hatte sie empfunden, als sie ihre Mutter oder ihren Vater sah?

»Genau deshalb liefere ich dich denen nicht aus«, erklärte Marta. »Selbst wenn du ein Mörder bist. Schließlich haben sie dich auch nicht gefragt, ob du überhaupt ein Funktional werden willst oder nicht!«

»Stimmt, sie haben mich nicht gefragt«, sagte ich. »Danke. Ich werde dir nicht lange zur Last fallen. Wenn es dich nicht stört, würde ich gern bei dir übernachten und morgen früh abhauen.«

»Einverstanden«, antwortete Marta, wobei sie mir fest in die Augen sah. »Du kannst bei mir schlafen.«

Doch schon im nächsten Moment veränderte sich ihr Blick. Sie packte mich beim Arm und drehte mich zum Fenster um. »Da! Der Typ auf dem Platz!«

Zwischen uns und Martas Haus stand ein Mann auf dem Platz. Er wirkte irgendwie gedankenverloren, als wüsste er nicht, wohin er jetzt gehen sollte, zur Zollstelle oder ins Restaurant.

»Das ist Krzysztof Przebyżyński«, informierte mich Marta.

»Der Policzyszt?«, hakte ich nach. Entsetzt bemerkte ich, dass ich bereits Zischlaute in Wörter einbaute, wo sie gar nicht hingehörten. Zum Glück fiel es Marta jedoch nicht auf - oder sie legte diesmal ein überraschendes Taktgefühl an den Tag.